In praktisch jedem Einführungskurs in Makroökonomik lernt man das Konzept des Fiskalmultiplikators. Der Fiskalmultiplikator gibt an, um welches Vielfache sich das Einkommen eines Landes – normalerweise als Bruttoinlandsprodukt gemessen – erhöht, wenn die Staatsausgaben erhöht (Staatsausgabenmultiplikator) oder die Steuern gesenkt werden (Steuermultiplikator).

Das Standardmodell, mit dem Studierende in Einführungskursen konfrontiert werden, unterstellt, dass Fiskalmultiplikatoren höher als eins sind und die Volkswirtschaft also um mehr als nur die zusätzlichen Staatsausgaben wachsen würde. Die Mechanismen, die zu diesem Ergebnis führen, sind leicht zu verstehen: Die Änderung in der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, die die Erhöhung der Staatsausgaben beziehungsweise die Senkung der Steuern verursacht, führt nicht nur zu einem höheren Einkommen um das Ausmaß dieses Impulses, sondern auch zu einer zusätzlichen Steigerung, die sich durch – von höheren Einkommen hervorgerufene – Konsumänderungen ergibt.

Fiskalische Schocks

Dieses einfache Modell abstrahiert von möglichen Reaktionen seitens der ökonomischen Akteure in Antizipation zukünftiger fiskalpolitischer Maßnahmen. Wenn Individuen etwa erwarten, dass heutige Steuersenkungen in der Zukunft wieder durch höhere Steuern ausgeglichen werden, dann könnten sie einen Teil des Anstiegs im Einkommen sparen – statt ihn zu konsumieren. Die Ersparnis würde demnach zur Bezahlung der kommenden Steuererhöhung verwendet werden. In diesem Fall wäre der Fiskalmultiplikator kleiner als eins.

Sogenannte Crowding-out-Effekte, wo Staatsausgaben einen Teil der privaten Wirtschaftsaktivitäten verdrängen, können zusätzlich eintreten und den Fiskalmultiplikator weiter verringern. Ob Verdrängungseffekte und Antizipationseffekte stark genug sind, um einen Fiskalmultiplikator unter eins oder sogar einen negativen Fiskalmultiplikator zu erzeugen, ist eine empirische Frage und muss anhand ökonometrischer Modelle und geeigneter Daten beantwortet werden.

Die Schätzung von Fiskalmultiplikatoren ist kompliziert. Aus makroökonomischen Daten muss identifiziert werden, welche Änderungen in Fiskalvariablen auf eine staatliche Intervention zurückzuführen sind und welche aus einer automatischen Reaktion auf konjunkturelle Schocks resultieren – etwa eine Zunahme der Ausgaben der Arbeitslosenversicherung nach einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit.

Es gibt verschiedene Methoden, die dieses Identifikationsproblem lösen können. Ökonometrische Verfahren, basierend auf der Verwendung dynamischer Modelle, die die Interaktion von Fiskalvariablen und anderen makroökonomischen Größen betrachten, werden oft verwendet, um diese Schocks empirisch feststellen zu können und damit Fiskalmultiplikatoren zu schätzen. Die schlechte Nachricht ist, dass – abhängig von den verwendeten Daten, Modellen und Identifikationsstrategien für die fiskalischen Schocks – die Fiskalmultiplikatoren, die man erhält, sehr unterschiedlich sein können.

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Praktisch alles ist möglich

In einer neuen Studie, die demnächst im Oxford Bulletin of Economics and Statistics erscheint, habe ich gemeinsam mit Jan Čapek (Masaryk-Universität, Brno) die Bandbreite an Fiskalmultiplikatoren für europäische Länder analysiert, die man durch die Verwendung unterschiedlicher Modellierungsmöglichkeiten erhalten kann.

Die Ergebnisse sind ernüchternd: Sogar scheinbar unwichtige Entscheidungen beim Aufbau des ökonometrischen Modells – wie die Art des zur Deflationierung der Variablen verwendeten Preisindizes oder ob man die Daten um Ausreißer bereinigt oder nicht – können zu gravierenden Unterschieden im Wert des Fiskalmultiplikators führen. Auch die Definition von Staatsausgaben und Steuern oder die Periode, die man untersucht, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Größe des Multiplikators.

Die Ergebnisse für Österreich zeigen diese Diskrepanz sehr klar. Abhängig von der Modellierungswahl kann der geschätzte Staatsausgabenmultiplikator zwischen minus 3,39 und plus 4,52 und der Steuermultiplikator zwischen minus 9,20 und plus 7,03 liegen. Praktisch alles ist möglich. Im Durchschnitt beträgt der berechnete Staatsausgabenmultiplikator 0,86 und der Multiplikator nach einer Steuersenkung 1,12.

Natürlich sind nicht alle Modelle gleich gut geeignet, um plausible Fiskalmultiplikatoren zu berechnen. Ein Kriterium, das angewendet werden kann, um die Qualität dieser Modelle einzuschätzen, ist ihre Prognosegüte. Manche Modellierungsstrategien sind wesentlich besser als andere, wenn es darum geht, die zukünftige ökonomische Entwicklung zu prognostizieren.

Mit einem einfachen Experiment (der Messung des Prognosefehlers im letzten Jahr) können wir also "bessere" von "schlechteren" Modellen unterscheiden und Erkenntnis über die Größe des Multiplikators aus der Gruppe der prognosefähigeren Spezifikationen gewinnen. Allerdings zeichnet sich sogar innerhalb der Gruppe der besten 40 Prozent der Prognosemodelle kein klares Bild ab, obwohl hier die Durchschnittswerte mit 0,79 für den Staatsausgabenmultiplikator und 1,41 für den Steuermultiplikator höher liegen.

Absolute Transparenz

Man kann jedoch trotzdem gewisse Schlussfolgerungen für das Design der Fiskalpolitik aus dieser Untersuchung ziehen, wie zum Beispiel über die (im Durchschnitt) stärkere Reaktion der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auf eine Steuersenkung, verglichen mit der auf eine Staatsausgabenerhöhung.

Die Ergebnisse der Studie sind aber ein Warnsignal, wenn es darum geht, Angaben über die Größe von Fiskalmultiplikatoren für wirtschaftspolitischen Empfehlungen kritiklos zu übernehmen. Für eine seriöse Bewertung angedachter fiskalpolitischer Maßnahmen ist absolute Transparenz in der Dokumentation der Berechnung der makroökonomischen Effekte von fiskalischen Schocks bei ökonometrischen Studien somit eine absolute Minimalbedingung. (Jesús Crespo Cuaresma, 5.11.2019)

Jesús Crespo Cuaresma ist Professor für Volkswirtschaft an der WU Wien und leitet das Institut für Makroökonomie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie und angewandte Ökonometrie.
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