Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #146 (November 2019) – Ab 2. November im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

SCHWERPUNKT: BERLIN

WIE DER WIND UND DAS MEER

Hertha, Union und die Fußballstadt Berlin

VOR DEM DERBY I

Favorit aus Charlottenburg

VOR DEM DERBY II

Underdog aus Köpenick

DER WAHRE MEISTER

Die erfolgreiche Vergangenheit des BFC Dynamo

BERLINS BESTE

Die erfolgreichsten Klubs der Stadt

Außerdem im neuen ballesterer

IN IDEALER POSITION

Karim Onisiwo ist in Mainz gerade obenauf

KICKEN UND LERNEN

Die Akademie der Köglbergers in Kenia

ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT

Ein Anstoß zur Wiener Austria

DER SOMMER VON 1988

Als PSV Eindhoven den Landesmeistercup gewann

WIE IM FILM

Die Juve-Ultras, ihr Verein und die ’Ndrangheta

ANDALUSISCHE TRÄUME

Turki Al Sheikh und die UD Almeria

ANZEIGE SINNLOS

Eine Studie untersucht Polizeigewalt

DRITTE CHANCE IN LIGA ZWEI

Sebastian Boenisch beim Floridsdorfer AC

UNTER ALTEN MASTEN

Stadioneröffnung in Wiener Neustadt

ENDE EINER LAUFBAHN

Die Stadionpläne von Linz

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, England, Italien und der Slowenien

Axel Kruse.

Foto: Stefanie Fiebrig, ballesterer
Foto: Stefanie Fiebrig, ballesterer

Axel Kruse kennt Berlin von beiden Seiten der Mauer. Auch beim Fußball. In der Oberliga spielte er mit Hansa Rostock regelmäßig gegen Union Berlin und den BFC Dynamo. Im Sommer 1989 floh Kruse in den Westen und wurde Profi bei Hertha BSC. Zunächst musste er eine mehrmonatige FIFA-Sperre wegen des nicht genehmigten Klubwechsels absitzen, seine erste Partie für den neuen Verein war ein Freundschaftsspiel im Jänner 1990 – vor mehr als 50.000 Zuschauern im Olympiastadion gegen Union. Axel Kruse schoss das 1:0. Das Interview mit dem ehemaligen Stürmer findet im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Prenzlauer Berg statt. Im Stadion, das nächstes Jahr abgerissen wird, spielt der BFC Dynamo, Rekordmeister der DDR und einst Lieblingsklub des ehemaligen Stasi-Chefs Erich Mielke.

ballesterer: Welche Erinnerungen haben Sie an den Jahn-Sportpark?

Axel Kruse: Ich habe hier eines meiner letzten Spiele gemacht, wir haben mit Hansa gegen den BFC 0:4 verloren. Zu DDR-Zeiten war das Stadion ja noch modern. Hinten in der Kurve war eine Öffnung, von der man auf die Mauer schauen konnte. Die haben sie später zugemacht.

ballesterer: Sie kommen aus Mecklenburg-Vorpommern. Wie war es damals, zum Fußball nach Berlin zu fahren?

Axel Kruse: Zuerst war ich ja selber Fan. Meine erste Auswärtsreise mit Hansa Rostock war zu Union, so mit 13 ungefähr. Da war der Gästeblock noch auf der Waldseite, und die Heimfans sind herübergerannt gekommen. Ich habe eine ordentliche Backpfeife abbekommen. Wenn du in den 1980er Jahren auswärts gefahren bist, hast du laufen können müssen. Ich zumindest, denn mit 13 kannst du dich schwer wehren.

Haben Sie die Bundesliga auch verfolgt?

Axel Kruse: Ich bin in einem Dorf an der Grenze zu Polen aufgewachsen. Wir haben nur Westfernsehen schauen können, wenn gerade ein Hochdruckgebiet war, und selbst dann hat mein Vater draußen die Antenne auf besondere Art drehen müssen. Als ich mit zwölf auf die Sportschule in Rostock gekommen bin, habe ich heimlich Westradio gehört und später auch Westfernsehen geschaut. Ich habe aber nicht gedacht, dass die Bundesliga toller ist als die Oberliga. Ich habe beides gut gefunden.

ballesterer: Nach Ihrer Flucht sind Sie nach West-Berlin gegangen. Warum?

Axel Kruse: Mein Fluchthelfer war aus West-Berlin, ich habe ja schon den Kontakt zur Hertha gehabt. Und ich habe mich sofort in die Stadt verliebt. Hier war rund um die Uhr etwas los, es war nicht spießig, es hat nicht jeder über den anderen Bescheid gewusst.

ballesterer: Aber Bundesliga hat es nicht gegeben. 1989 hat die Hertha in der zweiten Liga vor ein paar tausend Zuschauern gespielt.

Axel Kruse: Aber die Hertha war in Berlin der Verein schlechthin. Ich habe auch ein Angebot von Borussia Dortmund gehabt, aber da ist vielleicht der "Ossi" in mir durchgekommen, und ich habe gedacht: "Fängst du besser mal in der zweiten Liga an." Was mir an der Hertha extrem imponiert hat, ist, wie sie sich um mich gekümmert haben. Die haben mich ins Aufnahmelager begleitet, ich habe mir bei den Franzosen, den Engländern und den Amerikanern meine Stempel holen müssen. Beim damaligen Schatzmeister Rainer Zachmann habe ich drei Tage übernachtet.

ballesterer: Sie sind im Juli 1989 geflohen, vier Monate vor dem Mauerfall. War das im Nachhinein schlechtes Timing?

Axel Kruse: Es klingt fast so, aber heute sehe ich das ganz anders. Ich habe es nicht geschenkt bekommen. Die Geschichte meiner Flucht ist immer wieder ein Thema in meiner Familie. Wie meine Eltern sich gefühlt haben müssen, habe ich erst verstanden, als ich selbst einen Sohn hatte.

ballesterer: Sie waren damals 21. Haben Sie Angst gehabt, oder hat Ihnen die jugendliche Unbekümmertheit geholfen?

Axel Kruse: Es war eine Mischung aus Dämlichkeit und Übermut. Ich war ein renitenter Vollidiot, ich habe mir ungern etwas sagen lassen. Wenn einer nicht in den Osten gepasst hat, dann ich.

ballesterer: Würden Sie sagen, dass Sie aus politischen Gründen geflohen sind?

Axel Kruse: Politisch? Ich weiß nicht, ich wollte frei sein. Zwei Jahre vorher bin ich vom Training von zwei Stasi-Beamten abgeholt worden, mit der Ansage: "Bitte kommen Sie mit zur Klärung eines Sachverhalts." Die haben mich stundenlang befragt, in so einem Raum mit Tisch, Hocker und Mikro – wie im Film. Hinterher habe ich gedacht, die hätten dich auch vierteilen können, und keiner hätte es gemerkt. Das Ende vom Lied war, dass ich nicht mehr ins Ausland fahren durfte. 1986 sind wir mit den DDR-Junioren Europameister geworden, 1987 wäre die WM gewesen. Da habe ich schon nicht mehr hin dürfen.

ballesterer: Was hat Ihnen die Stasi vorgeworfen?

Axel Kruse: Die haben gedacht, ich wollte abhauen. Das wollte ich gar nicht, eigentlich haben die mich auf die Idee gebracht. Ich bin geflohen, weil ich gewusst habe, dass es hier eh nicht funktionieren wird. Ich habe mir gesagt, wenn ich das nächste Mal die Gelegenheit bekomme, bin ich weg. Später habe ich herausgefunden, dass 18 inoffizielle Mitarbeiter über mich berichtet haben. 18! Was für ein Aufwand. Ich war ein kleiner Spieler aus einem Dorf in Vorpommern. Kein Wunder, dass die DDR pleite gegangen ist.

ballesterer: Die Gelegenheit zur Flucht ist im Sommer 1989 gekommen. Hansa hat im Intertoto-Cup gegen B 1903 Kopenhagen gespielt. Und Sie haben erstmals wieder reisen dürfen.

Axel Kruse: Ja, die Stasi hat mir so weit getraut, mich wieder fahren zu lassen. Mit der Hertha war schon alles geklärt. Ein Freund in Rostock hat zu einer Familienfeier nach West-Berlin fahren dürfen, und der hat einen Boxtrainer bei der Hertha gekannt. So ist der Kontakt entstanden. Das war ein halbes Jahr vor meiner Flucht. Da war noch nicht klar, ob ich je wieder ins Ausland fahren darf. Für den Fall haben wir vereinbart, dass ich eine Postkarte mit dem Text "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag wünscht Herr Jakob" verschicke. Das war das Signal.

ballesterer: Ihr Fluchthelfer hat Sie mit dem Auto abgeholt, dann ist es Richtung BRD gegangen. Ab wann haben Sie das Gefühl gehabt: "Ich bin frei"?

Axel Kruse: Das weiß ich noch genau. Kurz hinter dem Fährhafen in Deutschland haben wir an einer Tankstelle angehalten. Ich hab das letzte Ostgeld und meinen Wohnungsschlüssel weggeschmissen, dann habe ich mich frei gefühlt. Ich habe die Nachbarn meiner Eltern, die ein Telefon gehabt haben, angerufen. Das war furchtbar. Meine Mutter konnte kein Wort sagen. Meinen Eltern waren ja nicht 21, denen war bewusst, dass sie mich sehr lange nicht sehen werden.

ballesterer: Am 9. November ist dann die Mauer geöffnet worden. Wie haben Sie das erlebt?

Axel Kruse: Ich habe damals am Kurfürstendamm über einem Lokal gewohnt. Als nachts total viele Leute unterwegs waren, bin ich runter, und der Wirt hat gemeint: "Die Mauer ist auf." Ich so: "Ja ja, was ist wirklich los?" Dann habe ich mir die Leute genauer angeschaut und gemerkt, es stimmt. Zuerst war ich sauer. Mein erster Gedanke war: "Wie? Ich habe das alles auf mich genommen, und die Kommunisten dürfen jetzt umsonst kommen?" Aber dann war ich total froh, meine Familie wiedersehen zu können.

ballesterer: Kommen wir zum Aktuellen. 30 Jahre später gibt es jetzt das erste Bundesliga-Derby. Wie ist als Herthaner Ihr Verhältnis zu Union?

Axel Kruse: Mit dem Hass kann ich überhaupt nichts anfangen. Ich komme aus einer Generation, in der es geheißen hat: "Hertha Union – eine Nation!" Ich kenne die Fanfreundschaft zwischen den Klubs. Ich habe auch in meiner Familie Unioner, das ist total in Ordnung. Aber Union ist Köpenick, Hertha ist Berlin.

ballesterer: Was erwarten Sie sich vom Derby?

Axel Kruse: Die Stadt ist groß genug für zwei Bundesligisten. Ich sehe es nicht wie Union-Präsident Dirk Zingler, der einen Klassenkampf daraus machen will. Mit Ost gegen West kann ich 30 Jahre nach dem Mauerfall nichts mehr anfangen. Ich freue mich darauf. In meiner Familie wird gefrotzelt, das war in der zweiten Liga auch schon so. Dann werden die Unioner einmal sehen, was ein richtiges Stadion ist.

ballesterer: Und das Olympiastadion ist endlich wieder einmal ausverkauft. Hertha will dort 2025 ausziehen. Wie wichtig ist ein neues Stadion?

Axel Kruse: Wenn du in den nächsten 20, 30 Jahren erfolgreich sein willst, brauchst du ein richtiges Fußballstadion, eng und laut. Im Olympiastadion musst du dich in der Halbzeitpause entscheiden, ob du ein Bier holst, eine Wurst isst oder auf die Toilette willst. Nur eins davon geht. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde Hertha auf dem Maifeld beim Olympiastadion neu bauen. Aber das steht unter Denkmalschutz, da geht es um die Sichtachse vom Olympiastadion. Wir reden von der Sichtachse eines Nazibaus – wieso ist die wichtiger als etwas, von dem alle in Berlin profitieren?

ballesterer: Die Hertha scheint auf ständiger Identitätssuche zu sein. Mal will sie der Hauptstadtklub sein, dann doch wieder der Verein für Berlin und Brandenburg, dann der Global Player. Wie sehen Sie das?

Axel Kruse: Ach, das ist immer so Marketinggerede. Hertha ist von 1892, das ist der älteste Verein der Bundesliga. Das ist etwas anderes als Wolfsburg oder RB Leipzig. Klar sind da nicht 80.000 im Stadion wie in Dortmund, sondern 45.000, aber du kannst in Berlin so viel anderes unternehmen. Hertha ist wie die Stadt, die verändert sich auch dauernd. Da muss sich der Verein immer wieder neu erfinden. Der Spruch "Hier kannst du alles sein, auch Herthaner" stimmt einfach.

ballesterer: Sie sind mit Hertha zweimal in die Bundesliga aufgestiegen. Wie war das im Vergleich?

Axel Kruse: Wir hatten jeweils eine super Mannschaft mit viel Zusammenhalt. 1989 haben wir uns noch hinten am Marathontor umgezogen, nicht einmal der Trainer hat eine eigene Kabine gehabt. Trainiert haben wir meistens auf dem Maifeld. Mit Profisport hat das nichts zu tun gehabt, da war es bei Hansa professioneller. Aber es war trotzdem gut. Nach dem Aufstieg 1990 bin ich in der Rückrunde zu Eintracht Frankfurt gewechselt.

ballesterer: Und bei Ihrer Rückkehr 1996?

Axel Kruse: Die Hertha war wieder in der zweiten Liga. Ich habe Angebote von Schalke und Köln gehabt, aber ich wollte zurück nach Berlin. "Bist du bescheuert?", haben mich Leute gefragt. Bei den ersten Spielen waren nur ein paar tausend Leute, die Trainingsbedingungen hatten sich auch nicht wirklich verbessert. Aber ich war überzeugt, wir haben ein gutes Team gehabt: Jolly Sverrisson, Michael Preetz, Jürgen Röber als Trainer. Und irgendwann war der Zug nicht mehr aufzuhalten.

ballesterer: Spätestens als die Hertha im April gegen Tabellenführer Kaiserslautern 2:0 gewann.

Axel Kruse: Darauf sprechen mich heute noch Leute an, die damals im Stadion waren. Wir hatten mit 50.000 gerechnet, als ich nach zehn Minuten in die Runde geschaut habe, war das Stadion brechend voll. Da waren 76.000. Nach 25 Minuten habe ich ein Tor geschossen, und die haben alle meinen Namen gerufen. Da bist du dem Wahnsinn nah.

ballesterer: Nach Ihrer Karriere im Fußball haben Sie noch American Football gespielt.

Axel Kruse: Ja, als Kicker bei Berlin Thunder. Das war das Beste, das ich machen konnte. Ich habe zwar nicht so ganz genau gewusst, wie das Spiel funktioniert, aber ich wollte es ausprobieren. Und der Job selbst ist simpel. Da kannst du mich nachts um vier Uhr wecken, und ich schieß dir den Ball immer noch zwischen die Stangen. Die ersten zwei Jahre haben wir übrigens hier im Jahn-Sportpark gespielt. American Football, die kapitalistische Sportart schlechthin, in Erich Mielkes Stadion. Das hat mir gefallen. (Jan Mohnhaupt & Nicole Selmer, 1.11.2019)