Das neue Gesetz sieht vor, dass russische Provider ihre Infrastruktur so aufbauen, dass sie den Traffic in ihren Netzen zentralisiert kontrollieren können.

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"Es war bei der Wahl in Moskau viel knapper, als man glaubt", sagt Kyrill Rogow. Rogow, einer der führenden Soziologen in Russland, stellt auf der regionalen Wirtschaftskonferenz "Sibirisches Davos" im Altai seine Untersuchungen zu den Wahlen und zur Protestbewegung in Russland hervor. Der Kreml habe nach einer Reihe von Schlappen bei Regionalwahlen im vergangenen Jahr dazugelernt und die Abstimmungen 2019 durch den rechtzeitigen Austausch von Gouverneuren weitgehend unfallfrei über die Runden gebracht, so Rogow.

Doch in der Hauptstadt erzielte die Opposition einen Achtungserfolg und sicherte sich immerhin 20 der 45 Sitze. Laut Rogow fehlte der Opposition sogar nur eine Kleinigkeit für den Sieg. "Hätte sie noch gut ein Prozent mehr der Moskauer Wähler – das sind etwa 45.000 Menschen – mobilisieren können, hätte sie sogar die Mehrheit in der Stadt-Duma übernommen", so der 53-Jährige. Angesichts dessen, dass die Opposition keinen Zugang zu den Medien hat, ist das ein gewaltiges Ausrufezeichen.

Rogow hat dafür eine einfache Erklärung: "In den vergangenen drei bis vier Jahren hat sich die Informationsaufnahme der Russen deutlich verändert", sagte er dem STANDARD. Der Anteil des Fernsehens als Informationsquelle ist von 50 auf 38 Prozent gesunken, während das Internet, speziell soziale Netzwerke und Blogs, zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Deren Anteil ist nämlich zugleich von acht auf 20 Prozent gestiegen. Bei jungen Menschen (bis 40 Jahre) haben soziale Netzwerke und Blogs mit einem Anteil von 30 Prozent dem Fernsehen (25 Prozent) sogar schon den Rang abgelaufen, resümiert der Soziologe.

TV-Propaganda läuft ins Leere

Damit läuft die Fernsehpropaganda des Kremls bei jungen Menschen ins Leere. Sie informieren sich über Ereignisse lieber über Beiträge bei Facebook, oder deren russischen Pendants vkontakte, Odnoklassniki oder Livejournal. Das wird unter anderem auch daran ersichtlich, dass bei den Großdemos vor zwei Jahren, als ebenfalls jeweils etwa 1000 Menschen festgenommen wurden, in Umfragen etwa 40 Prozent der Befragten das Vorgehen der Polizei als adäquat bezeichnete, während 27 Prozent mit den Demonstranten sympathisierte. Als in diesem Sommer Moskau erneut protestierte, hat sich der Trend umgedreht. Inzwischen sieht eine relative Mehrheit die Gewaltanwandung der Polizei gegen Demonstranten als ungerechtfertigt an.

Der Kreml hat die Gefahr längst erkannt. Schon im Winter letzten Jahres wurde das Gesetz über die Schaffung eines "souveränen Internets" in die Duma eingebracht. Am 1. November tritt es in Kraft. Ein PR-Begriff der Kremlpolitik. Offiziell geht es dabei darum, mögliche Störungen des Netzes durch Angriffe, oder gar eine Abschaltung von außen zu unterbinden. "Es sind keine Beschränkungen geplant. Im Gegenteil: Das Gesetz dient dazu, die Souveränität unseres Internetsegments zu schützen und die Arbeit darin zu gewährleisten. Für alle – Privatpersonen, Blogger und staatliche Organisationen", versicherte Wladimir Putin bei seiner TV-Fragestunde.

Massive Proteste

Trotzdem gab es massive Proteste im Zuge der Verabschiedung. Denn das Gesetz sieht vor, dass russische Provider ihre Infrastruktur so aufbauen, dass sie den Traffic in ihren Netzen zentralisiert kontrollieren können. Damit sollen potenzielle Bedrohungen rechtzeitig identifiziert und liquidiert werden können. Zugriff auf diese Server hat neben der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor natürlich auch der russische Geheimdienst FSB.

Roskomnadsor hat sich bereits den zweifelhaften Ruf eines Zensors erarbeitet, als die Behörde im vergangenen Jahr weitgehend vergeblich versuchte, den Cloud-basierten Messenger-Dienst Telegram zu blockieren, nachdem sich dessen Gründer, der IT-Unternehmer Pawel Durow geweigert hatte, die Verschlüsselungs-Codes an den Geheimdienst weiterzugeben.

Mit dem neuen Internetgesetz steigen die Möglichkeiten der Kontrolle. Alles, was Roskomnadsor als dubios einstuft, kann blockiert werden. Augenblickliche Veränderungen sind mit dem Inkrafttreten des Internetgesetzes nicht zu erwarten – abgesehen womöglich von ein paar technischen Störungen. In Murmansk, die als Pilotregion für die Einführung des Systems gilt, wurden zuletzt bereits einige solcher Störungen gemeldet.

Wichtiger allerdings ist, dass die russische Führung sich damit ein Instrument sichert, um künftig unliebsame Ressourcen – sei es Telegram oder der Blog des Oppositionspolitikers Alexej Navalny – abschalten zu können. Derzeit sind solche Blockierungen immer noch relativ leicht zu umgehen. Das dürfte künftig schwerer werden. (André Ballin aus Moskau, 1.11.2019)