Wesley So übernimmt das Kommando.

Foto: APA/AP/Berit Roald

Oslo – "Ich mag Fischer Random achtmal lieber als klassisches Schach", sagt Wesley So lachend nach geschlagener Schlacht. Und wen wundert es, nach diesem schönheitspreisverdächtigen Sieg über Schachweltmeister Magnus Carlsen, der den Ort der Schmach eiligen Schrittes verließ, bevor So ans Mikrofon trat.

In einem furiosen Angriff mit den weißen Steinen hatte der US-Amerikaner philippinischer Provenienz einen ganzen Turm ins Geschäft gesteckt, um den König seines Gegners Frischluft schnuppern zu lassen. Tatsächlich sah es zeitweilig so aus, als ob So den schwarzen Monarchen auf offenem Brett forciert Matt setzen würde. Magnus Carlsen aber, auch wenn er grimassiert und sich auf seinem Sessel windet, findet in solchen Fällen in der Regel die einzige Verteidigung. So musste sich also nolens volens mit einem besseren Endspiel begnügen – in dem Carlsen, der unter Dauerdruck stand, dann doch noch der entscheidende Schnitzer unterlief.

Während bei Zuschauern wie Kommentatoren kurz Unsicherheit darüber herrschte, ob das Schlussspiel mit Turm, Springer und Randbauer gegen Turm mit dem weit vom Schuss stehenden weißen König wirklich gewonnen war, demonstrierte So trotz schwindender Bedenkzeit großmeisterliche Technik und führte die Partie bündig zum Sieg.

Feuerwerke

Die für den ersten Finaltag herbeigeloste Anfangsstellung hatte schnell eine Tendenz zu Strukturen aus dem klassischen Schach geläufiger Damenbauerneröffnungen wie dem Damengambit oder der Damenindischen Verteidigung erkennen lassen – zumindest wurde sie in menschlichem Analogiestreben von den Spielern so gehandhabt.

Die Folge waren scheinbar bekannte Stellungsbilder wie die Karlsbader Struktur, die aufgrund der teilweise ungewöhnlichen Figurenstellung jedoch überraschend schnell taktisch explodierten. Man könnte auch sagen: Es wurde höchst dynamisches, die Zuschauer vom ersten Zug an begeisterndes Schach geboten. Insbesondere die zweite Partie war überreich an taktischen Motiven und fantastischen Opfer- wie Gegenopfer-Wendungen und dürfte daher – ohne Rücksicht auf ihre randomisierte Anfangsposition – Eingang in Lehrbücher und Partiensammlungen finden.

Aber auch der erste Durchgang war keineswegs von schlechten Eltern: Magnus Carlsen, der die weißen Steine führte, nutzte dabei eine an das angenommene Damengambit erinnernde Anfangssequenz für die rasche Mobilisierung aller Kräfte in Richtung Königsflügel. Die gipfelte in einem vernichtend aussehenden Springeropfer auf g7, direkt vor der Nase von Wesley Sos König. Schwarz überlebte das Mittelspiel knapp aber doch, und ein paar Ungenauigkeiten des Weltmeisters später erreichte der ausgesprochen schwer zu schlagende Amerikaner ein Endspiel mit Minusbauer, in dem ihm schließlich die Errichtung einer Remisfestung gelang.

Carlsen unter Druck

Magnus Carlsen, sichtlich enttäuscht über den vergebenen Sieg, wusste zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht, dass es noch dicker kommen würde: Partie zwei, die mit umgekehrten Vorzeichen exakt derselben Dramaturgie wie Partie eins zu folgen schien, endete mit der Niederlage des Weltmeisters, der nun mit 1,5:4,5 zurückliegt. In den am heutigen Freitag gespielten beiden Partien steht der Norweger massiv unter Druck, zumindest einmal voll zu punkten. Sonst muss der Norweger an Tag drei in den punktemäßig geringer gewichteten Partien mit kürzerer Bedenkzeit einem erheblichen Rückstand hinterherlaufen.

Zwischen Fabiano Caruana und Jan Nepomnjaschtschi wurde parallel um die Bronzemedaille gekämpft. Beiden Kontrahenten gelang dabei je ein Weißsieg, es steht somit 3:3. Wobei aus Nepomnjaschtschi der Frust über sein Ausscheiden gegen Wesley So sprach, als er anmerkte, er sei schwer, sich am "Brett der Schande" (auf dem um den dritten Platz gespielt wird) überhaupt zu motivieren. (Anatol Vitouch aus Oslo, 1.11.2019)