"Manche Eltern hoffen bis zum Schluss", weiß Sabine Reisinger, die geschäftsführende Obfrau des Vereins Kinderhospiz Netz.

Foto: Regine Hendrich

Mit einem Lächeln im Gesicht führt Sabine Reisinger durch Österreichs erstes Tageshospiz für Kinder. Lichtdurchflutete Räume, farbenfrohe Möbel, ein kuscheliges Rückzugszimmer: Hier, an der Meidlinger Hauptstraße in Wien, betreut der Verein Kinderhospiz Netz an rund 14 Tagen im Monat lebensverkürzend erkrankte Kinder. 2005 hat Reisinger mit einer Ärztin den Verein gegründet. Zur Gänze aus Spenden finanziert betreuen heute vier Ärzte, fünf Pflegepersonen, Sozialarbeiter, Therapeuten die kranken Kinder in ihrem Zuhause. Um die Familien und besonders die Geschwister kümmern sich Ehrenamtliche, ob bei den Aufgaben, auf Ausflügen oder in Geschwistergruppen. Das sei für die Entlastung der Familien besonders wichtig, sagt Reisinger.

STANDARD: Sie haben im Vorjahr 52 Familien von 48 lebensverkürzend erkrankten Kindern betreut, dazu 65 Geschwisterkinder. Als Sie das Kinderhospiz Netz 2005 gegründet haben, war das Thema Sterbebegleitung für Kinder völlig tabu. Heute gibt es mobile Kinder-Palliativ- und -Hospiz-Teams sowie ein paar Palliativbetten für Kinder. Hat Österreich aufgeholt?

Sabine Reisinger: Ja, weil früher gab es gar nichts. Was immer noch fehlt, ist ein stationäres Kinderhospiz, wie es das in Deutschland längst gibt. Häuser, in denen sieben bis acht Familien bis zu drei Wochen bleiben, Urlaub machen können, auch mit einem Kind, das etwa beatmet wird und mit dem man sonst nirgendwo hinfahren kann. In so einem Hospiz müssten die Eltern auch entlastet werden, in der Nacht zum Beispiel. So etwas gibt es in Österreich nicht.

200 Personen haben die Leute vom Kinderhospiz Netz im Vorjahr insgesamt betreut, davon waren 48 erkrankte Kinder.
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STANDARD: Weil es so teuer ist?

Reisinger: Ja, das ist eine Geldfrage. Für ein stationäres Kinderhospiz braucht man sehr, sehr viel Personal – das es unter Umständen gar nicht gäbe. Weil die klassische Ausbildung zur Kinderkrankenpflege, wie es sie früher gab, so nicht mehr stattfindet. In diesem Bereich fehlt viel Personal.

STANDARD: Nicht einmal Ärzte reden darüber, dass Kinder sterben, weil das so nicht sein sollte. Ist das Thema inzwischen enttabuisiert?

Reisinger: Ich glaube, wir haben das mit unserer Arbeit schon auch verändert. Als die Ärztin Brigitte Humer-Tischler und ich den Verein 2005 gegründet haben, ist sie in den Spitälern gewesen und hat festgestellt, dass es den Ärzten nicht wirklich bewusst war, dass sie da Kinder behandeln, die lebensverkürzend erkrankt sind. Sie haben nicht registriert, dass die Kinder etwas anderes brauchen als auf der Intensivstation zu liegen – es gab aber auch keine Alternative. Man hätte ein beatmetes Kind kaum daheim betreuen können. Wir wollten mit unserem Verein damals nur die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, dass es das gibt. Familien begleiten? Das wollten wir damals noch gar nicht.

STANDARD: In Österreich sterben rund 400 Kinder pro Jahr ...

Reisinger: Aber das ist gar nicht das Thema. Das Thema ist, dass es Kinder gibt, die lebensverkürzend erkrankt sind und noch Jahre zu leben haben. Das ist der große Unterschied zum Erwachsenenhospiz: Wir begleiten ab Diagnosestellung bis weit über den Tod hinaus, das können 15 Jahre sein. Die Kinder leben. Wir begleiten das Leben, den Tod dann auch. Die Familien brauchen in diesen vielen Jahren Unterstützung, sie sind ja sehr belastet, stehen jahrelang drei Mal pro Nacht auf, um ihr Kind umzulagern, damit es in der Früh nicht wundgelegen ist. Im Alltag zu helfen, darum geht es.

Drei Tage pro Woche, drei Samstage im Monat steht das Tageshospiz den Kindern und ihren Betreuern offen.
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STANDARD: Wie reagieren Eltern auf so fatale Diagnosen?

Reisinger: Das ist höchst unterschiedlich. Viele unserer Kinder haben Stoffwechselerkrankungen oder sehr, sehr seltene Erkrankungen, und da dauert schon die Erstellung der Diagnose lang. Manche Eltern reagieren schnell und setzen sich damit auseinander, dass ihr Kind sterben wird, manche brauchen lang, manche hoffen bis zum Schluss. Wir begleiten alle.

STANDARD: Abseits des Emotionalen ist das große Thema für Betroffene, die schwerstkranke Kinder daheim betreuen, die Isolation.

Reisinger: Ja, man kann nicht weggehen, nicht auf Urlaub fahren, keinen Babysitter ins Haus holen – außer dieser wäre Arzt. An dem Punkt setzen wir mit unserer Entlastungspflege an: Unser Pflegepersonal kommt auch, anders als die vom Staat bezahlten mobilen Pflegedienste, einmal am Abend, damit die Eltern rauskommen.

STANDARD:Die Erkrankung, das Sterben eines Kindes, belastet Familien und Partnerschaften enorm. Schweißt das zusammen, oder kommt es öfter zu Trennungen?

Reisinger: Trennung ist ein Thema, keine Frage. Wir haben Familien, da trennen sich Frauen von ihren Männern, weil die Situation die Männer so belastet und die Frauen nicht auch sie betreuen können oder wollen. Andere Familien wachsen enger zusammen. Es gibt aber eine Statistik, wonach 95 Prozent der Ehen fünf Jahre nach dem Tod ihres Kindes geschieden sind. Nach dem Tod passiert offenbar noch einiges.

STANDARD: Ist es meist die Frau, die beim Kind daheim bleibt?

Reisinger: Ja, und der Mann geht arbeiten. Denn oft sind diese Frauen schon seit der Geburt des kranken Kindes daheim. Und das ist ein großes Thema: Die Frau pflegt das Kind jahrelang, lebt oft allein, weil der Vater schon weg ist. Dann stirbt das Kind. Die Frau muss aus der barrierefreien Wohnung raus, bekommt kein Gehalt und kein Pflegegeld, es ist alles weg. So steht die Mutter da: kein Job, keine Vorsorge, keine Unterstützung. Nach dem Tod des Kindes beginnt es, wirklich eng zu werden.

STANDARD: 2018 sind sieben der von Ihnen betreuten Kinder gestorben. Ist in den Familien das Thema Sterben und Tod ein großes, oder geht es mehr um den Alltag, den es zu bewältigen gilt?

Reisinger: Auch das ist sehr unterschiedlich. Wir haben vor allem viele Mütter, denen das Thema Sterben gar kein Tabu ist, die das aber nicht mit ihrem Mann bereden können. Andere Familien brauchen lang, bis sie vom Sterben, vom bevorstehenden Tod ihres Kindes reden können.

STANDARD: Weil man in dem Moment die letzte Hoffnung aufgibt?

Reisinger: Mag sein. Man muss sich das erst einmal trauen, vom Tod des Kindes zu reden.

STANDARD: "Wir begleiten das Leben und nicht den Tod", sagen Sie. Können Sie das immer so sehen?

Ehrenamtliche Mitarbeiter haben im Vorjahr insgesamt 5498 Stunden ihrer Zeit für die kranken Kinder, ihre Geschwister und Familien gespendet.
Foto: Regine Hendrich

Reisinger: Ja, weil es so ist. Wenn drei Kinder hier bei uns sind im Tageshospiz, da geht es zu, da herrscht ein Leben! Da ist nicht der Tod im Mittelpunkt, gar nicht.

STANDARD: Die altbekannte Frage: Müssten wir, denen es gutgeht, nicht viel dankbarer sein, viel öfter aufs Unglück schauen?

Reisinger: Es würde jedenfalls jedem helfen zu relativieren. Aber mir gelingt es auch nicht immer. Worüber ich mich oft ärgere ...

STANDARD: Ihre rund 50 ehrenamtlichen Mitarbeiter: Sind das alles Leute, die relativieren wollen?

Reisinger: Das sind auch immer mehr Junge, die das aus Interesse machen. Und viele Leute, die etwas zurückgeben wollen, weil sie selbst mehr Glück hatten, Leute, die etwas Sinnvolles tun wollen. Und man kann mit wenig Einsatz sehr viel tun: Einmal in der Woche zu einem Geschwisterkind gehen und etwas unternehmen, was es sonst nie tun kann: Fußballspielen, ins Kino gehen etwa. Oder die Schwester eines unserer Kinder zum Chor bringen, die so gern singt und so eine wunderschöne Stimme hat. Sie ist blind. Ich finde es manchmal erschreckend, wie wenig es braucht, um so viel zu verändern.

STANDARD: Für die Familien geht es ums Abschiednehmen?

Reisinger: Ja, in vielerlei Hinsicht. Ab der Diagnose geht es ums Abschiednehmen – Abschied nicht vom Kind, sondern auch von seinen Vorstellungen und Hoffnungen, die man sich vom Leben, von seiner Familie gemacht hat. (Renate Graber, 1.11.2019)