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Deutschland rutscht derzeit in eine Rezession, Österreich ist weit davon entfernt. Woran das liegt? Wer Antworten sucht, findet sie in Osteuropa.

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Oft war vom "Leuchtturm" die Rede. Oder vom "Musterknaben", der "Konjunkturlokomotive" und dem "Klassenprimus". Jahrelang haben die Deutschen, wenn sie die Wirtschaftsseiten ihrer Zeitungen aufschlugen, ausschließlich gute Nachrichten über die Entwicklung in ihrer Heimat zu lesen bekommen.

Doch das Verwöhnprogramm ist vorbei. Deutschland droht laut führenden Ökonomen eine Rezession, also ein Rückgang der Wirtschaftleistung in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen.

Das gewerkschaftsnahe deutsche Institut IMK beziffert die Rezessionswahrscheinlichkeit inzwischen mit 60 Prozent. Lediglich die stabile Entwicklung in den ersten Monaten des Jahres wird dafür sorgen, dass über das gesamte Jahr betrachtet die Wirtschaft noch leicht, nämlich um 0,5 Prozent, wachsen dürfte. Im Vorjahr waren es 1,4 Prozent. 2020 soll es etwas besser werden, die Wirtschaftsleistung BIP wird aber nur moderat zulegen.

Entkoppelung

Für Österreich sehen die Zahlen besser aus: Das Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo geht für heuer von einem mehr als dreimal so starken Wachstum aus wie beim Nachbarn – und auch für das kommende Jahr sind Österreichs Ökonomen optimistischer.

Schon im vergangenen Jahr war die Entwicklung der heimischen Wirtschaft besser. Unter Experten wird deshalb eine These diskutiert: Hat sich Österreich von Deutschland abgekoppelt?

Lange Zeit galt es als offensichtlich, dass Österreich und Deutschland im Tandem unterwegs sind. Ging es in Deutschland bergab, schlug sich das voll auf Österreich durch – so sehr waren Exporte und Investitionen der heimischen Industriebetriebe und Dienstleister auf die Bundesrepublik konzentriert.

In den 90er-Jahren galt, dass ein Prozentpunkt weniger Wachstum in Deutschland bedeutet, dass in Österreich das BIP um 0,7 Prozent nachlässt, sagt Christian Helmenstein, der Chefökonom der Industriellenvereinigung (IV). Über die vergangenen fünf Jahre war dieser Zusammenhang schwächer, ein Prozentpunkt weniger Wachstum in Deutschland hat sich nur mit einem Minus von 0,3 Prozentpunkten auf Österreich durchgeschlagen.

Weniger Autos

Das kann natürlich eine kurzzeitige Entwicklung sein und sich schon bald wieder anders darstellen. Und es gibt auch keine Studien dazu, wie der Grad der Verflechtung sich verändert hat. Doch vermuten viele Ökonomen, dass, selbst wenn es keine Abkoppelung gegeben habe, Österreichs Wirtschaft sich von Deutschland ein Stück weit entferne.

Um zu verstehen, warum, lohnt ein genauerer Blick auf die Ursachen der Schwäche in Deutschland. Als Gründe für die negative Entwicklung in der Bundesrepublik sehen Experten eine weltweit nachlassende Nachfrage nach Investitionsgütern, auf deren Export die deutsche Wirtschaft spezialisiert ist.

Hinzu kommen politische Unsicherheiten, etwa der Brexit. Deutsche Unternehmen exportieren bereits jetzt weniger ins Vereinigte Königreich. Mit Sorge beobachten Experten etwa den exportstarken Maschinenbau in Deutschland.

Das größte Sorgenkind ist die Automobilindustrie. Diese steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Sie muss die Umstellung vom Verbrennungsmotor in Richtung E-Mobilität hinbekommen und das zunehmende Desinteresse jüngerer Städter gegenüber dem Auto verschmerzen.

Das Center Automotive Research der Uni Duisburg-Essen hat errechnet, dass heuer in Deutschland nur 4,7 Millionen Autos hergestellt werden. Das wäre der tiefste Wert seit 1997.

Wo die Krise zugeschlagen hat

Zudem gibt es auch organisatorische Probleme: Eine Umstellung auf ein neues Abgastestverfahren hat in Deutschland im vergangenen Jahr die Produktion verlangsamt. Bei VW kam zum Beispiel der Konzern nicht nach mit der Zulassung der vielen Fahrzeugtypen nach den neuen Regeln.

Die Schwierigkeiten bekommen auch Zulieferer zu spüren. Continental hat bereits Stellenabbau angekündigt, auch Bosch will bis Ende 2022 mehr als 2000 Stellen in Deutschland streichen.

Die Zusammenhänge sind kompliziert. Denn die deutschen Hersteller VW, BMW und Mercedes stecken keineswegs in einer wirtschaftlichen Krise: Die drei großen Marken haben im vergangenen Jahr mehr als 16 Millionen Pkws verkauft – sie konnten also global betrachtet mehr Autos als im Jahr zuvor absetzen.

Freilich fand eine Verlagerung statt. Die Zahl der Pkws, die in Deutschland vom Fließband rollen, ist zurückgegangen. Dafür haben die deutschen Autobauer mehr Pkws in ausländischen Fabriken gebaut. In den Škoda-Werken in Tschechien wurden noch nie so viele Autos produziert wie 2018. In Ungarn erweitert Audi seine Produktionskapazitäten laufend.

Davon profitieren aber Österreichs Automobilzulieferer, nicht die deutschen, sagt IV-Chefökonom Helmenstein. Denn diese Branche ist breiter aufgestellt als noch vor zehn oder 20 Jahren. Die Unternehmer liefern verhältnismäßig mehr nach Osteuropa, wo das Geschäft stabil ist.

Auch Maschinenbauer und andere Betriebe verkaufen mehr im Osten. In Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Polen wächst das BIP weiter stark – das hat auch einen Effekt auf Österreich und federt die Wirkung der Turbulenzen in Deutschland ab.

Osteuropa ist wieder die Cashcow

Täuschen darf man sich dabei nicht: Rund 30 Prozent der Industrieexporte aus Österreich gehen heute nach Deutschland. In den 1990er-Jahren lag dieser Anteil allerdings noch bei fast 40 Prozent.

Deutschlands Bedeutung für Österreich ist auch in einem anderen Sektor zurückgegangen. Vor 20 Jahren erwirtschafteten Österreichs Unternehmen ein Viertel ihrer ausländischen Gewinne in der Bundesrepublik. Heute sind es nur noch neun Prozent.

Tschechien hat Deutschland als größte Cashcow abgelöst. Das hat viel mit den heimischen Banken und Versicherungen zu tun, die in Osteuropa dominant sind. Die Erste Bank erwirtschaftete 2018 fast ein Drittel ihres Profits in Tschechien.

Mario Holzner vom Osteuropainstitut Wiiw sagt, dass auch der Einzelhandel von der starken Expansion in Osteuropa profitiert hat. Supermärkte wie Spar und Baumarktketten wie Bauhaus erwirtschaften einen großen Teil ihrer Gewinne östlich von Wien, Ähnliches gilt für Bauunternehmen wie Strabag.

Nach 2009 sah es nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die Osteuropa besonders traf, so aus, als ziehe die enge Verflechtung mit seinen östlichen Nachbarn Österreich in die Tiefe. Jetzt profitiert Österreich vom starken Wachstum im Osten.

Dennoch sollte man das Entkoppelungsargument nicht überstrapazieren. Katarína Muchová, Ökonomin bei Slovenská sporiteľňa, der Erste Bank-Tochter in der Slowakei, sagt, dass die slowakische Wirtschaft, wie jene Tschechiens, ihrerseits den Abschwung in Deutschland spürt.

Für diese Länder ist Deutschland der wichtigste Absatzmarkt. Doch hier kommt ein anderer Aspekt abmildernd ins Spiel: Über die vergangenen Jahre sind hunderttausende Arbeitnehmer aus Ungarn, Polen, der Slowakei und Tschechien nach Österreich und Deutschland ausgewandert.

Das führt dazu, dass die Löhne in diesen Ländern nun deutlich stärker steigen als im Rest Europas. Arbeitskräfte sind knapp. Das ermuntert Menschen, mehr zu konsumieren, mehr Kredite werden vergeben. Und daran naschen auch Österreichs Unternehmen mit.

Arbeitsmarkt

Einen dramatischen Einbruch auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland erwarten Experten nicht.
Foto: APA / Herbert Pfarrhofer

Wenn die Konjunktur lahmt, leiden auch die Sozialsysteme. "Deutschland ist auf die Eintrübung jedoch gut vorbereitet", sagt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. In den vergangenen guten Jahren hat die deutsche Bundesagentur für Arbeit (BA) 20 Milliarden Euro an Reserven anhäufen können, damit können die Auswirkungen eines Konjunktureinbruchs abgefedert beziehungsweise überbrückt werden.

Einen dramatischen Einbruch auf dem Arbeitsmarkt erwarten Experten nicht. "Aufgrund des Fachkräftemangels werden Firmen versuchen, ihre qualifizierten Leute möglichst lange zu halten, um nicht später neu suchen zu müssen", meint Schäfer.

Derzeit liegt die Arbeitslosenquote in Deutschland laut Eurostat bei 3,2 Prozent – das ist der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung 1990. In Österreich sind es 4,8 Prozent. Das Verhältnis war lange anders: Österreich hatte die niedrigere Quote.

Dass sich das geändert hat, dürfte mehrere Ursachen haben – etwa den langen Aufschwung in der deutschen Industrie. Gemessen an der Bevölkerung kamen deutlich mehr Arbeitnehmer aus Osteuropa nach Österreich als nach Deutschland. Mit den Hartz-IV-Reformen wurde auch der Druck auf Arbeitslose in der Bundesrepublik erhöht, was sich ebenfalls bemerkbar machte.

In Österreich gibt es nach dem Arbeitslosengeld die Notstandshilfe, die theoretisch, wenn der Betroffene keinen Job findet, bis zur Pensionierung bezogen werden kann.

In Deutschland folgt auf Arbeitslosengeld Sozialhilfe, bekannt als Hartz IV. Hier gibt es nur noch eine Grundsicherung, im Moment sind das 424 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen. Es gibt außerdem Zuschüsse zur Wohnung.

Investitionen

Zu den großen Unterschieden zwischen Deutschland und Österreich zählt die Investitionstätigkeit. In Österreich ist der Staat investitionsfreudiger, aber auch die Unternehmen stecken mehr Geld in neue Maschinen und Anlagen.

Die Investitionsquote in Österreich ist, gemessen an der Wirtschaftsleistung BIP, um etwa zwei Prozentpunkte höher als in Deutschland. Etwa die Hälfte der Differenz entfällt auf den öffentlichen Sektor, etwa die Hälfte auf den privaten.

Der Chefökonom der Arbeiterkammer, Markus Marterbauer, sagt: "Deutschland müsste pro Jahr um 90 Milliarden Euro mehr investieren, um Österreichs Niveau zu erreichen."

Die Unterschiede sind zum Teil eine Folge politischer Entscheidungen: Während in Deutschland schon eine Strategie der schwarzen Null im Staatshaushalt verfolgt wurde, fuhr Österreich noch Defizite ein. Marterbauer sagt zudem, dass das Vertrauen der heimischen Betriebe in den Standort Österreich sehr hoch ist. In Deutschland beklagt nicht nur die Opposition, dass im Land zu wenig investiert wird. Auch deutsche Ökonomen sagen das.

Deutschland gab 2018, gemessen am gesamten Haushalt, 11,56 Prozent für Investitionen aus, für 2019 sind 10,89 Prozent geplant. Drei Milliarden Euro will die deutsche Regierung in den nächsten Jahren in die Förderung künstlicher Intelligenz (KI) stecken, um gegenüber China und den USA aufzuholen. Dafür sollen 100 zusätzliche Professuren für KI geschaffen und zwölf Forschungszentren gefördert werden.

Die deutsche Industrie will noch auf einem anderen Feld Pflöcke einschlagen, sie wünscht sich in Deutschland einen Weltraumbahnhof, um von dort aus kleine Trägerrakete starten zu lassen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will den Vorschlag prüfen lassen, denn: "Raumfahrt begeistert viele Menschen und sichert tausende Arbeitsplätze in Deutschland. In der Satellitentechnik sind wir führend."

Pensionen

Deutschland ist gerade dabei, das Pensionsantrittsalter von 65 auf 67 Jahre anzuheben.
Foto: APA / Barbara Gindl

Ein konjunktureller Einbruch ist aufgrund der Reserven aus den besseren Jahren auch für das deutsche Pensionssystem zu verkraften. Das heißt aber nicht, dass dort eitel Sonnenschein herrscht. "Das größere Problem ist die Demografie, weil bald die geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter kommen", sagte der Rentenexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft, Jochen Pimpertz.

Deutschland ist gerade dabei, das Pensionsantrittsalter von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Alle Beitragszahler, die ab dem Jahr 1964 geboren wurden, erreichen das gesetzliche Eintrittsalter erst mit Vollendung des 67. Lebensjahres.

Doch das wird nicht reichen, um das System dauerhaft aufrechtzuerhalten. Die Bundesbank hat nun die "Rente mit 69" vorgeschlagen, was kontrovers diskutiert wird. "Es gibt einige Stellschrauben, an denen man drehen kann", sagt Pimpertz. Wenn Beitragserhöhungen und eine Absenkung des Rentenniveaus nicht gewünscht seien, müssten Menschen länger arbeiten.

In Österreich liegt das Regelpensionsantrittsalter für Männer bei 65, bei Frauen sogar nur bei 60. Zwischen 2024 und 2033 wird das Pensionsantrittsalter der Frauen schrittweise auf 65 Jahre angehoben. Die Pensionen kosten Österreich mehr: Insgesamt belaufen sich die Ausgaben in Österreich laut Ageing Report der EU-Kommission auf 13,9 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Deutschland sind es 10,3 Prozent.

Diese Ausgabenersparnis entlastet auf der einen Seite Arbeitnehmer und -geber in Form niedrigerer Abgaben. Zugleich gibt es soziale Auswirkungen: In Österreich liegt die Quote der armutsgefährdeten Pensionisten laut Industriestaatenorganisation unter dem Wert in Deutschland. (András Szigetvari, Birgit Baumann, 2.11.2019)