Foto: Fischer Tor

Das Buch des Monats ist zugleich das schönste und das gruseligste – keine alltägliche Kombination, aber Simon Stålenhags "The Electric State" ist auch ein ungewöhnliches Werk. Man könnte es als "Graphic Novel" bezeichnen, wenn der Begriff nicht schon an Comics vergeben wäre. "Bildband?" "Illustrierter Roman?" So ganz wird ihm keine Bezeichnung gerecht, auf jeden Fall aber ist es atemberaubend.

Was geschieht

In Wort und Bild nimmt uns der junge schwedische Autor und Maler mit auf einen Trip durch ein (post-)apokalyptisches Amerika, das die Kontrolle über seine Technologie verloren hat. Michelle, die junge Ich-Erzählerin mit Punk-Attitüde, ist in Begleitung des Pinocchio-artigen Roboters Skip auf dem Weg von der Mojave-Wüste zur Pazifikküste. Unterwegs wird sie mit allen Etappen eines klassischen Untergangsszenarios konfrontiert: Hier noch Hamsterkäufe und bewaffnete Milizen, dort schon verweste Leichen, leerstehende Häuser und in der Ödnis zurückgelassene Autos. Und überall sind riesenhafte Maschinen unterwegs.

Wie wir erfahren, ist die Technokalypse in zwei Wellen über die Menschheit hereingebrochen. Schon vor Jahren fand ein verheerender Drohnenkrieg statt; wobei "Drohne" für Maschinen höchst unterschiedlichen Aussehens steht. Und aktuell ist eine neue Virtual-Reality-Software (Sentre Stimulus TLE) auf den Markt gekommen, die ungeahnte Folgen mit sich bringt. Immer wieder stößt Michelle auf Beispiele für seltsame neue Symbiosen, die sich zwischen Mensch und Maschine entwickelt haben. Und man kann sich gar nicht entscheiden, welcher Eindruck verstörender ist: die wohl unheimlichste Sexszene, die man seit vielen Jahren gelesen hat, oder das Bild von einem Mann, der mit seinem VR-Helm an ein freistehendes Terminal angeschlossen ist und damit einem Auto an der Zapfsäule erschreckend ähnlich sieht.

Die textliche Erzählung läuft auf zwei Ebenen ab: Auf schwarzen Seiten mit weißem Druck liefert uns ein anonymer Zeitzeuge (vielleicht sind es verschiedene Stimmen) Informationen zum historischen Hintergrund, während die Gegenwart Michelles Eindrücken und Erinnerungen vorbehalten bleibt. Insgesamt hat der Text natürlich nicht die Länge eines Romans, sondern eher die einer Kurzgeschichte. Und doch ist er kein bloßes Beiwerk zu den Bildern, sondern ergibt eine in sich runde Erzählung.

Ted Björling

Am anderen Ende der Bucht ragten drei Militärluftschiffe aus dem Wasser. Früher waren solche Luftschiffe der ganze Stolz der Armee gewesen. Aufgereiht hatten sie auf den Landebahnen gestanden, und vor den Augen Tausender Zuschauer hatten die Piloten dem Präsidenten die Hand geschüttelt. Jetzt lagen sie hier. Vom Himmel gepflückt, ausgehöhlt vom Meer. Eine Sitzgelegenheit für Vögel. Seht her, die Amphion, das Prachtstück der Luftwaffe. Zehn Millionen Tonnen Rost und Vogelschiss.

Riesige Wracks sprenkeln die Landschaft ebenso wie Maschinentürme, die ihr Kabelgespinst ins Umland ausgerollt haben. Roboterkarawanen ziehen umher, und manchmal marschieren Maschinen und Menschen gemeinsam – verbunden durch Drähte wie Puppenspieler und Marionetten, doch wer steuert in diesem Kollektiv wen? Stålenhags fotorealistische Bilder, durchgehend ganzseitig im Format 28,5 x 25,5, lassen sich stets auf mehr als nur eine Weise deuten.

Kontextverschiebung

Den höchsten Verstörungsgrad erreichen die Bilder dann, wenn die Maschinen an vergangene Zeiten erinnern, als alles noch quietschbunt, durchkommerzialisiert und dem Menschen dienlich war: Da lugt eine Werbefigur mit fiesem Grinsen über ein Viadukt, Augenpaare mit dem Sentre-Logo als Pupille blicken aus Displays auf einen Highway herab und turmhohe "Badeenten" (offenbar Figuren, die für Schießübungen verwendet wurden) bilden eine Skyline. Dass die einstmals harmlosen Objekte aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und in einen neuen gestellt wurden, dessen Wesen noch niemand so recht begreift, verleiht ihnen ihre Monstrosität.

Anfang der 2000er Jahre veröffentlichte der kanadische Autor und Illustrator Bruce McCall in Bildbänden wie "The Last Dream-o-Rama" oder "All Meat Looks Like South America" satirisch überspitzte Oden an die technologieverliebte Gesellschaft Mitte des 20. Jahrhunderts, ihre Automobile und ihre Googie-Architektur. Stålenhags Visionen könnten deren unheimliche Schwester sein. Auch hier haben wir es übrigens mit dem Entwurf einer Zukunft zu tun, die es in dieser Form nie gegeben hat: Die Drohnen von "Electric State" haben sich schon in den 1970ern durchgesetzt, und die vor unseren Augen ablaufende technologische Singularität ist im Jahr 1997 angesiedelt.

Das Erfolgsrezept

Simon Stålenhag ist ein schönes Beispiel dafür, dass man Erfolg haben kann, wenn man einen Weg einschlägt, den noch niemand anderer gegangen ist, und beharrlich auf ihm bleibt. Als Teenager hat er damit begonnen, herkömmliche Landschaftsfotos mit SF-Elementen zu garnieren – und im Prinzip tut er das heute, mit 35, immer noch. Seine digital erstellten, im Stil aber an Öl- und Acrylgemälde angelehnten Bilder haben eine neue Marktnische erschlossen.

Vor "Electric State" sind bereits die zwei Bände "Tales from the Loop" und "Things from the Flood" erschienen. Außerdem hat Stålenhag Ausstellungen bestückt und das Design für ein Computerspiel geliefert – und schon bald soll er auch Kino und Fernsehen erobern: Die Rechte für entsprechende Adaptionen von "The Electric State" und "Tales from the Loop" wurden bereits von Amazon respektive den Machern von "It" erworben. Wir dürfen uns aber erst mal darüber freuen, dass Fischer Tor 2020 auch "Tales from the Loop" und "Things from the Flood" auf Deutsch herausbringen wird, hurra!