"Ethikunterricht ist dann erfolgreich, wenn Schülerinnen und Schüler über wichtige Sinnfragen nachdenken und versuchen, eigene Antworten darauf zu finden": Philosophin Barbara Brüning.
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Ginge es nach den Plänen der geplatzten ÖVP-FPÖ-Regierung, dann sollte es ab Herbst 2020 Ethikunterricht als Pflichtfach ab der neunten Schulstufe, beginnend in AHS und polytechnischen Schulen, geben – aber nur für die Schülerinnen und Schüler, die keinen Religionsunterricht besuchen. Zu eng gedacht, meint die Hamburger Philosophin Barbara Brüning, die ihre Habilitationsschrift dem Ethikunterricht in Europa widmete. Sie empfiehlt einen Blick nach Luxemburg.

STANDARD: Was halten Sie davon, Ethikunterricht nur für jene Schülerinnen und Schüler verpflichtend zu machen, die keinen konfessionellen Religionsunterricht haben?

Brüning: Wir haben in Deutschland bis auf Berlin und Brandenburg in allen Bundesländern die gleiche Regelung wie in Österreich, da das Grundgesetz in Artikel 7 Absatz 3 Religion als ordentliches Lehrfach garantiert. Ethikunterricht als Alternative ist aus meiner Sicht zunächst eine pragmatische Lösung, da sich nun auch Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, mit wichtigen Sinnfragen in der Schule beschäftigen können. Als Ideal betrachte ich jedoch einen Ethikunterricht für alle, in dem allerdings auch Religion bzw. religiöse Diversität einen gebührenden Platz erhalten, wie zum Beispiel im Fach "Vie et societé" ("Leben und Gesellschaft") in Luxemburg.

STANDARD: Ab wann sollte es Ethikunterricht geben? In Österreich ist das neunte Schuljahr das letzte der Schulpflicht. Reicht ein Jahr?

Brüning: Die Beschäftigung mit wichtigen Sinnfragen lässt sich nicht auf ein Jahr beschränken, da Kinder bereits im Vor- und Grundschulalter Fragen an die Welt stellen. In Deutschland haben deshalb acht Bundesländer Ethikunterricht als Religionsalternative bereits in der Grundschule eingeführt, um Kindern von Beginn ihrer Schulzeit an eine ethische Orientierung zu geben.

STANDARD: Warum braucht es überhaupt Ethikunterricht?

Brüning: In der modernen Schule geht es vorrangig um Wissen und Fakten. Deshalb braucht es auch Fächer wie Ethik und Religion, die dieses Wissen in einen größeren Sinnzusammenhang stellen, im Sinne von: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Darüber hinaus orientiert der Ethikunterricht junge Menschen an Werten, Normen und moralisch guten Haltungen (Tugenden), was in dieser Komplexität nicht von anderen Fächern geleistet werden kann.

STANDARD: Gegnerinnen und Gegner des Ethikunterrichts sagen mitunter: Da werden die Schülerinnen und Schüler bloß anders, eben nichtreligiös indoktriniert. Quasi Gesinnungsunterricht der anderen Art oder Political Correctness als Schulfach. Ihre Antwort?

Brüning: Wer sich die europäischen Curricula des Ethikunterrichts anschaut, der wird trotz unterschiedlicher Themenbereiche oder Methoden ein gemeinsames Ziel finden: die Erziehung zur Nachdenklichkeit. Schülerinnen und Schüler sollen durch den Ethikunterricht angeregt werden, über wichtige Sinnfragen wie beispielsweise nach Glück und Gerechtigkeit selbst nachzudenken und ihre Weltsicht durch Gedanken aus der philosophischen Tradition von Platon bis Hannah Arendt im Dialog mit anderen zu formen bzw. auch infrage zu stellen. Da es in der philosophischen Tradition immer verschiedene Positionen zu Sinnfragen gegeben hat und gibt, kann von Indoktrination keine Rede sein.

STANDARD: Wer soll Ethik unterrichten? Auch konfessionelle Religionslehrerinnen und -lehrer?

Brüning: Jeder Lehrer bzw. jede Lehrerin, der oder die eine Ausbildung in Problemkreisen der philosophischen Tradition absolviert hat und die Grundmethoden des Philosophierens anwendet, kann das Fach unterrichten, also auch Religionslehrkräfte, die sich an der Offenheit und Pluralität ethischen Denkens orientieren.

STANDARD: Wann ist Ethikunterricht erfolgreich, was wird benotet?

Brüning: Ethikunterricht ist dann erfolgreich, wenn Schülerinnen und Schüler über wichtige Sinnfragen nachdenken und versuchen, eigene Antworten darauf zu finden. Dazu benötigen sie Kompetenzen wie die Fähigkeit, ethische Begriffe zu klären, zu argumentieren bzw. Argumente auf ihre Überzeugungskraft hin zu prüfen und Gedankenfäden zu "spinnen", das heißt eigene kreative Ideen zu ethischen Problemen zu entwickeln. Aus der Fridays-for-Future-Bewegung kommen da aktuelle schöne Beispiele. (Lisa Nimmervoll, 4.11.2019)