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Der große Magnus Carlsen hatte gegen Wesley So (li) nicht seine beste Woche erwischt, am Ende gab er sich 2,5 zu 13,5 geschlagen.

Foto: Reuters/NTB Scanpix/Berit Roald

Albtraum eines Schachspielers: Man setzt sich ans Brett, und keine der Figuren befindet sich dort, wo sie am Anfang einer Partie stehen sollte. Ein Springer sitzt im Eck, daneben hockt die Dame, der König döst am rechten Flügel, gleich links und rechts von ihm ragen die Türme empor. Und wer ist schuld an dieser Verwirrung babylonischen Ausmaßes? Der verrückte Bobby natürlich.

Fischerschach, auch Chess960 genannt, ist noch nicht sehr alt. Ex-Weltmeister und Enfant terrible Robert J. Fischer gelangte Mitte der 90er-Jahre zum Schluss, dass klassisches Schach aufgrund der Dominanz weit ausanalysierter Varianten bald langweilig werden würde. Also ersann er seine eigene Version des schon zuvor bekannten Shuffle Chess, bei dem die Ausgangsstellung der Figuren auf der Grundreihe vor jeder Partie neu ermittelt wird.

Fischers Innovationen: Die beiden Läufer müssen auf verschiedenfarbige Felder gelost werden und der König jedenfalls zwischen den Türmen zu stehen kommen, damit kurze wie lange Rochade möglich bleiben – freilich oft von ungewohnten Startfeldern aus, sonst aber nach denselben Regeln und mit derselben Zielposition wie im klassischen Schach. Die weiße und schwarze Stellung gleichen einander anfangs spiegelsymmetrisch.

Ergebnis dieses Regelsets sind 960 verschiedene Ausgangsstellungen für eine Schachpartie. Eine davon – Position Nummer 518 in der offiziellen Fischerschach-Nomenklatur – wird seit Jahrtausenden geübt, die übrigen 959 sind noch sehr frisch und knackig. Klassische Eröffnungstheorie wird so mit einem Schlag irrelevant, stattdessen muss von Zug eins an selbst gedacht und geplant werden. Eine gewisse Disharmonie mancher Anfangspositionen wird dafür billigend in Kauf genommen.

Schach ohne Netz

Die Spielform wurde vom Weltschachbund lange nicht als "echtes" Schach anerkannt, 2019 aber liegen die Dinge anders: Die FIDE öffnet sich unter ihrem Präsidenten Arkadi Dworkowitsch für neue Ideen, und das vom US-amerikanischen Online-Schachmedium chess.com mitorganisierte Championat in der Heimat von Schachweltmeister Magnus Carlsen bekam das Gütesiegel, den ersten offiziellen Fischerschach-Weltmeister zu ermitteln.

Schon im Vorjahr war ein Wettkampf zwischen Carlsen und dem amerikanischen Blitzschach-Spezialisten Hikaru Nakamura sowohl bei zigtausenden Livezusehern im Internet als auch in der Fachpresse auf großes Interesse gestoßen. Carlsen und Nakamura hatten trotz (oder wegen?) kakofonischer Anfangsstellungen und knapper Bedenkzeit hochklassiges Schach mit großem positionellem wie taktischem Gehalt geboten – und damit bewiesen, dass Chess960 mehr als nur Spleen eines von Paranoia geplagten Ex-Weltmeisters ist.

Die heurige offizielle WM im Henie Onstad Kunstsenter zu Baerum, Oslo, bedeutete in jeder Hinsicht einen weiteren Sprung nach vorn. Die im Internet ausgetragene Qualifikation hatte jedem Schachspieler die Möglichkeit geboten, gegen ein bescheidenes Nenngeld an der Vorrunde teilzunehmen und sich für die nicht online, sondern mit echten, angreifbaren Figuren ausgetragene Endrunde zu qualifizieren.

Anschein und Liebe

Nur einer, Schachweltmeister Magnus Carlsen, war von den Veranstaltern direkt ins Semifinale gesetzt worden. Dort schlug der Norweger zunächst überzeugend Fabiano Caruana, die Nummer zwei der klassischen Weltrangliste, bevor er im Finale auf einen weiteren US-Amerikaner namens Wesley So treffen sollte.

Carlsen (28) galt – wie immer, wenn er Schach spielt – als hoher Favorit. So aber nutzte seine Außenseiterrolle, um befreit aufzuspielen. Der von den Philippinen stammende 26-Jährige, derzeit Nummer zwölf der Normalschach-Weltrangliste, hatte schon im Vorfeld seine Liebe zum Fischerschach bekundet, das er gleich "achtmal so gerne wie normales Schach" zu spielen angab, weil es ungleich mehr Möglichkeiten für Kreativität biete.

Die Liebe blieb nicht ohne Folgen: Wesley So zauberte gegen einen schwächelnden Carlsen erst taktisch per Opferangriff, später im Modus der positionellen Würgeschlange. Wohin die Figuren zu Beginn auch gelost wurden, So verstand es, sie zu einem harmonisch aufspielenden Orchester zu vereinen, während beim Weltmeister des klassischen Schachs die Misstöne überwogen.

Das Endergebnis fiel dennoch überraschend drastisch aus: Mit 13,5 zu 2,5 deklassierte So Carlsen im von Donnerstag bis Samstag vergangener Woche ausgetragenen Finale. Er krönt sich damit zum ersten offiziell anerkannten Chess960-Weltmeister der Historie – und in gewisser Weise schließt sich ein Kreis.

1972 hatte Bobby Fischer die sowjetische Dominanz durchbrochen und war Weltmeister im klassischen Schach geworden. Nun hat sein vielleicht bester Einfall einem anderen US-Amerikaner den Weg zu allerhöchsten schachlichen Ehren geebnet. (Anatol Vitouch aus Oslo, 3.11.2019)