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Manhattan ist in Lisa Maxwells Roman (Achtung Serienstart, kein wirklicher Abschluss!) das Epizentrum eines epischen Konflikts. Auf der einen Seite stehen die Mageus, Menschen mit magischer Begabung, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Und auf der anderen Seite Ortus Aurea, ein Orden, der sich der Aufklärung verschrieben hat und bemüht ist, die tendenziell chaotische natürliche Magie zu strukturieren, zu verwissenschaftlichen und unter Kontrolle zu bringen. Was für mich nicht per se böse klingt, aber zumindest fürs Erste nimmt der Orden die Antagonistenrolle ein.

Manhattan ist deshalb von solcher Bedeutung, weil hier Einwanderer aus aller Welt mitsamt ihrer Magie angekommen sind, um sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein neues Leben aufzubauen. Dabei ist die erste Grenze praktisch vor der Haustür: Im 19. Jahrhundert hat der Orden nämlich die Schwelle um Manhattan gelegt, einen unsichtbaren Wall, der jedem, der ihn von innen nach außen durchqueren will, die magischen Kräfte entreißt. In den meisten Fällen geht das mit Wahnsinn oder Tod der Betroffenen einher: ein Punkt für die Ansicht der Mageus, dass sich die Magie eben nicht in separate Teile aufspalten lässt, sondern mit ihrem Träger eine untrennbare Einheit bildet. Die Folge: Seit über 100 Jahren ist kein Mensch mit entsprechendem Talent mehr aus Manhattan rausgekommen. Es ist gleichsam ein vergrößertes (und dauerhaftes) Ellis Island.

Der Dodo ist wieder da

Die Hauptfigur des Romans heißt Esta und stammt aus unserer Gegenwart. Sie ist eigensinnig, etwas selbstgerecht – kurz gesagt: sie ist 17 – und verfügt über die Gabe, die Zeit zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Mithilfe eines Artefakts kann sie auch in die Vergangenheit reisen – und genau dorthin schickt sie ihr Mentor, Professor Lachlan, um ebensolche Artefakte zu bergen.

Die Kombination von Zeitreise und Magie erinnert etwas an das Szenario von Neal Stephensons "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." (sorry, ist in der betreffenden Rundschau nur mit viel "Wischarbeit" zu erreichen); verstärkt noch dadurch, dass in der Gegenwart die Magie schon weitgehend verschwunden ist. Außerdem muss Esta die beängstigende Erfahrung machen, dass sich der Zeitverlauf eben doch verändern lässt – auch das eine Parallele zu "D.O.D.O.".

Zurück ins Jahr 1901

Estas nächste Mission soll sie an den Anfang des 20. Jahrhunderts bringen. Damals führte der Bandenchef Dolph Saunders, der seine Frau an der Schwelle verloren hatte, aus Rache einen Großangriff gegen den Orden durch. In der Hektik der Ereignisse ging jedoch ein überaus kostbares Werk, nämlich das angeblich allerälteste Buch über Magie, verloren. Esta soll sich nun in Saunders' "Mannschaft" einschleichen, denjenigen entlarven, der das Buch verschwinden ließ, und die Beute sicherstellen.

Weitere wichtige Personen auf dieser Zeitebene sind zum einen Jack Grew, ein Sohn aus gutem Hause, der sich vor seiner Familie und dem Orden profilieren will und ein steampunkiges Geheimprojekt vorantreibt. Und zum anderen der Mageus Harte Darrigan, der sich aus einer Gang-Vergangenheit hochgekämpft hat, sich in die Gesellschaft einzufügen versucht und seine Begabung als Bühnenmagier tarnt. Weitgehend vorsichtig und vernunftbetont, bildet er den charakterlichen Gegenpol zu Esta – und ich will künftig Josefsdotter heißen, wenn die beiden nicht früher oder später im Bett landen ...

Das Zusammenspiel der Charaktere ist eine der wichtigsten Komponenten des Buchs; allesamt sind sie ausreichend gut gezeichnet, selbst die Nebenfiguren (von denen man die eine oder andere scharf im Auge behalten sollte). Spannung entsteht vor allem daraus, dass wirklich jeder von ihnen seine eigene Agenda verfolgt und gute Gründe hat, vor den anderen etwas zu verbergen.

Die sozialpolitische Komponente

Das zweite Pfund, mit dem US-Autorin Lisa Maxwell hier wuchert, ist das soziale Milieu. "Der letzte Magier von Manhattan" fährt zwar die gesamte Ausstattung auf, die man sich von einem Historienschinken erwarten würde. Doch streifen wir die gewöhnlich überrepräsentierte Oberschicht nur am Rande und bleiben stattdessen in der Welt der Einwanderer. Und der kleinen und größeren Kriminalität samt deren Querverbindungen zur Politik. Speziell wenn Saunders seine "Mannschaft" tagtäglich auf Diebestouren ausschickt und zugleich große Pläne für die Zukunft ausheckt, erinnert der Roman nicht zu knapp an "Peaky Blinders".

Das soziale Gefälle in Manhattan ist es auch, das dem Konflikt zwischen Mageus und Orden eine zusätzliche Komponente verleiht. Denn Letzterer ist ganz klar ein Instrument des Establishments, das keinerlei Interesse an einem Aufstieg der Immigranten hat: jenen Horden, die an ihre Küste kamen, wie Jack sie einmal verächtlich bezeichnet.

Empfehlung mit einem Schuss Vorsicht

Maxwell nimmt sich Zeit für ihre Erzählung – man beachte die neutrale Formulierung. Das Buch ist zwar nicht gerade dünn, aber ich hatte auch nicht das Gefühl, dass die Geschichte und meine Gähnmuskulatur übermäßig gestreckt wurden. Ob dieser Grenzgang weiter glücken wird, sei aber einmal dahingestellt. Wie gesagt: Dies ist nur der Auftakt einer Reihe, und der zweite Band – im Original 2018 erschienen – ist noch einmal erheblich länger als der erste.