Wien – Der Begriff der "toxischen Männlichkeit" kommt im Diskurs um die heuer bereits 18 Frauenmorde in Österreich immer wieder vor. Auf den ersten Blick scheint auch Eyob E., der vor einem Geschworenengericht unter Vorsitz von Claudia Zöllner ist, da er am 15. Jänner am Wiener Hauptbahnhof seine Schwester mit neun Messerstichen getötet hat, von dieser giftigen Maskulinität betroffen zu sein.

Seine letzte Arbeitsstelle in Tirol hatte der 22-jährige Koch im Jänner bereits nach vier Tagen verloren, da er Kolleginnen gegenüber frauenfeindlich aufgetreten oder eindeutig auf sexuelle Kontakte aus gewesen sei, berichteten Zeugen. Dass er "exzessiv Sport betrieb" und gleichzeitig Alkohol, Kokain, Amphetamine und Marihuana konsumierte und unflätig herummotzte, würde auch gut ins Bild passen.

Der 22-jährige Spanier gibt vor dem Geschworenengericht zu, seine Schwester erstochen zu haben.
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Bei der Verhandlung im Wiener Straflandesgericht zeigt sich allerdings, dass der in Äthiopien geborene Spanier nicht in den Fesseln gesellschaftlicher Rollenbilder gehandelt hat, sondern psychisch schwer krank ist. Selbst Staatsanwalt Martin Ortner erklärt den Laienrichterinnen und -richtern zu Beginn, dass E. kein "Angeklagter", sondern ein "Betroffener" sei und an paranoider Schizophrenie leide. Ortner fordert daher keine Verurteilung wegen Mordes, sondern die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.

"Stimmt das, was Ihnen der Staatsanwalt vorwirft?", will Vorsitzende Zöllner von E. wissen. "Ja, das stimmt", antwortet der Unbescholtene ruhig. Nur einen einzigen Einwand hat er: "Ich glaube, es waren weniger als neun Stiche." – "Wenn ich Ihnen sage, dass bei der Obduktion neun gefunden wurden, kann es dann sein, dass Sie neunmal zugestochen haben?" – "Ja."

Mit neun Jahren adoptiert

Zöllner erfährt vom Betroffenen mehr von seiner Vorgeschichte. "Als ich klein war, war meine Mutter sehr krank und gab mich zur Adoption frei." Neun Jahre war er alt, als er von einem spanischen Ehepaar adoptiert wurde, verwunden dürfte er die Trennung nie ganz haben. "Ich war sehr traurig", erinnert er sich.

Zwei Jahre später nahm das spanische Paar auch E.s leibliche Schwester an Kindes statt an, als er in die Pubertät kam, begannen die Probleme. Er griff zu Alkohol und Marihuana, rebellierte, angeblich verschrieb ihm mit 15 ein Psychiater auch Medikamente, die er aber nie nahm. Die Anziehungskraft des Herdes brachte ihn zurück in die richtige Spur: Er schloss eine Kochlehre ab und arbeitete in Deutschland, der Schweiz und Österreich.

Absturz nach Besuch der leiblichen Familie

Im April 2018 besuchte er mit seiner leiblichen Schwester die Verwandten in Äthiopien, was offenbar eine akute Verschlechterung seines psychischen Zustandes auslöste. Er sei wieder traurig geworden, erzählt er dem Gericht, Kokain und Amphetamine kamen dazu, laut der Aussage der Eltern veränderte sich sein Charakter, sie brachen schließlich sogar den Kontakt auf sozialen Medien mit ihm ab.

E. begann laut eigenen Angaben Stimmen zu hören, seine Wahnvorstellungen brachen immer mehr durch. "Warum sind Sie dann nicht zum Arzt gegangen?", fragt Beisitzer Christoph Bauer streng. "Ich habe das für normal gehalten", entgegnet der Betroffene. Die Stimme in seinem Kopf hatte nach dem Rausschmiss in Tirol eine Empfehlung für ihn, sagt er. "Sie hat gesagt, ich soll mir eine Frau suchen, eine Familie gründen und nach Wien gehen."

Seit 15. Jänner ist der Betroffene in Untersuchungshaft, wo er mittlerweile eine Krankheitseinsicht entwickelt hat.
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Glücklich wurde er auch dort nicht, im Gegenteil. Passanten und Lautsprecherdurchsagen auf dem Hauptbahnhof hätten ihn als "Hurensohn" und "Schwuchtel" beschimpft, behauptet er. Er begann, sich als "Sohn Gottes" zu fühlen. "Jesus ist ja auch beleidigt und beschimpft worden", erklärt er der psychiatrischen Sachverständigen Gabriele Wörgötter dazu.

Als er seinen Vater in Spanien anrief und um Geld bat, habe der ihm ebenso gesagt, dass er ein "Hurensohn" sei und der Vater ihn missbraucht habe, seit er klein gewesen sei. In diesem Telefonat machte E. einen derart derangierten Eindruck, dass seine in London lebende leibliche Schwester und seine Stiefschwester beschlossen, nach Wien zu kommen und ihn zu suchen.

Suche im Hauptbahnhof

Am 14. Jänner landeten die Geschwister in Schwechat. Da sie aufgrund von E.s Facebook-Profil wussten, dass er häufig auf dem Hauptbahnhof war, zogen sie dort Erkundigungen ein. Gegen 1 Uhr nachts fanden die beiden den Betroffenen, er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Ein Security-Mitarbeiter mischte sich ein, E. bestritt, die Frauen zu kennen. Als der Sicherheitsmitarbeiter ihn nach seinem Ausweis fragte, sagte er, der liege in seinem Rucksack zwei Stockwerke weiter unten.

E., seine leibliche Schwester und der Security-Mann gingen dorthin, E. holte allerdings nicht sein Dokument, sondern – unbemerkt von den anderen – ein großes Küchenmesser, Teil seines Handwerkzeugs als Koch. Ohne Vorwarnung rannte er plötzlich aus seine 27 Jahre alte Schwester zu, stach mehrmals mit voller Kraft auf sie ein und verletzte sie tödlich.

Andere Schwester sollte Opfer werden

Dem Gericht und der Sachverständigen erzählt er, er habe die Frauen "für Dämonen" gehalten, und der Security-Mann hätte ihm die Erlaubnis gegeben, sie zu töten. Dann sagt er wieder, dass eigentlich seine Stiefschwester das Opfer sein sollte, da diese ebenfalls gesagt habe, er sei als Kind vom Vater mit Chloroform betäubt und vergewaltigt worden.

Verteidigerin Astrid Wagner macht die Geschworenen darauf aufmerksam, dass sich der Zustand ihres Mandanten seit der Festnahme deutlich verbessert habe, da er Medikamente bekomme. Er habe mittlerweile eine Krankheitseinsicht und wisse, dass seine Behandlung noch lange dauern werde.

"Tut Ihnen jetzt leid, was Sie getan haben?", will die Vorsitzende vom Betroffenen wissen. "Ja, sehr leid. Ich denke jeden Tag an meine Schwester", hört sie als Antwort. Die Geschworenen entscheiden sich am Ende rechtskräftig für E.s Einweisung. (Michael Möseneder, 5.11.2019)