Am Fuße des Vesuvs braut sich die Geschichte des Buches "Meine geniale Freundin" zusammen.

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Im langweiligen Luzzatti-Viertel arrangierte man Setfotos, damit die Ferrantesen etwas zu fotografieren haben.

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Auch die Biblioteca Andreoli wurde mit Bildern aus dem Film verziert.

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Die hübsche Altstadt von Neapel ist kein Thema im Bestseller von Ferrante. Man findet sie aber auch so.

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Benvenuti a Napoli, der Stadt von Lila und Lenù! Freilich soll es Menschen geben, die von den beiden noch nie etwas gehört haben. Fans weltweit jedoch halten die fiktiven Memoiren der alternden Lenù für große Literatur, für den modernen Bildungsroman, für ein Fanal feministischen Empowerments. Obwohl es diesbezügliche Führungen und Broschüren bis jetzt nur in Englisch und Italienisch gibt, erklärt man die verstärkt einfallenden Touri-Horden zu Ferrante-Fans (Übersetzung in 48 Sprachen) und den Bestseller "Meine geniale Freundin" zum Sprungbrett des florierenden neapolitanischen Tourismus. Und jetzt kommt auch noch eine Übersetzung ins Arabische.

Der Stadtteil Luzzatti

Die einzige geografische Verortung, die in dem 2011 entstandenen Bestseller eine größere Rolle spielt, ist die bröckelnde Fascho-Architektur des Eisenbahnerviertels, in dem die beiden Mädchen aufwachsen. Der "rione" (Stadtteil, Anm.) Luzzatti di Gianturco ist heute ein lichtes Grätzel aus den 1950er-Jahren, das zwischen den Gleisen der Circumvesuviana und Neapels "Little Manhattan", schüchternen Bürotürmen aus den Achtzigern, eingeklemmt ist. Luzzatti kommt im Gegensatz zu anderen, famoseren, "neapolitanischeren" Vierteln gänzlich unspektakulär daher. Trauliche vierstöckige Wohnwürfel in Pastelltönen. Stille Straßerln, auf Seilen hängende Wäsche, pflanzenarme Balkone und die allgegenwärtigen zyklopischen Klimaanlagenkästen. Ältere Herrschaften tattern die sauberen Gehsteige entlang, andere unterbrechen ihre Unterhaltung und bieten dem Besucher Hilfe aller Art an.

Bei Erwähnung der "Genialen Freundin" brechen zwei Damen in einen Schwall an Liebenswürdigkeiten und Zusatzinformationen aus: Da drüben, der Balkon, der gehöre einer Ferrante-Verwandten, die könne vom Mord an Don Achille aus erster Hand erzählen! Und die muntere Bewohnerin fügt noch an, dass sie selbst eine Enkelin des vazierenden Obsthändlers sei. Aber das sind Details für Kundige. Uneingeweihte mögen sich hier mit einer vagen Synopse des personell überbordenden ersten Bandes begnügen.

Lenù und Lila

Elena/Lenù, alt gewordene Autorin und Akademikerin, deren Sorge um den Verbleib ihrer Busenfreundin und Intimfeindin Lila sie zur Feder greifen lässt, rauscht in verführerisch vertraulichem Stil, durchsetzt mit Dialektdialogen, durch die vier Bände ihrer Lebensbeichte. "Meine geniale Freundin" beschreibt Kindheit und Jugend (Pubertät gab's damals noch nicht) zweier Unterschichtmädchen im gewalttätigen Beziehungsgeflecht eines Armenviertels zwischen Kommunismus, Faschismus und Mafia. Mit dem zweiten Band kommen dann weniger geniale Ehen und Kinder, bescheidene Berufe und Karrieren, kleine Reisen und Krisen, auseinanderdriftende Lebensentwürfe, die derzeit ihrer Verfilmung harren.

Die geniale Freundin ist Lila, hochintelligent und spröde, der die weiterführende Schulbildung verwehrt wird. Der rabiate Schuhmacher wirft sein Töchterl gleich aus dem Erdgeschoßfenster, als dieses aufmuckt. Achtung, Schlüsselszene. Lenù lernt Lila, ihren zukünftigen Lebensmenschen, wie man heute sagt, in der Volksschule lieben, wo die resolute feministische Lehrerin Oliviero zum großen Vorbild wird. Lila, das vernachlässigte Trotzköpfchen mit narzistischen Zügen, wird zum Idol nicht nur Lenùs, sondern auch des Mafia-Sprösslings Marcello Solara, dessen Familie die Kaffeekonditorei im Viertel besitzt.

Mädchenfreundschaft

Die konformistischere Lenù, Pförtnertöchterl, das, auch nicht auf den Kopf gefallen, weiterstrebern und studieren wird, beschreibt präzis die Wechselfälle einer lebenslangen Mädchenfreundschaft inklusive Rivalität, Fremdeln, Hass und gegenseitigem Unverständnis. Zur Orientierung sind jedem Band mehrere Seiten mit ausführlichem Personenregister vorangestellt, sodass man sich den Wust an Eisenbahnern, Metzgern, Tischlern oder Papierhändlern samt ihren zahlreichen Nachkommen nicht merken muss.

Im Laufe der Geschichte erweisen sich die Mädchen als selbstbewusst genug, um sich ein zukünftiges Leben in Wohlstand fern des "rione" zuzugestehen; beider Intelligenz reicht offenbar nicht aus, um auch die Scheu vor Lebensart und Nonchalance der gehobenen Klassen abzulegen. Im umtriebigen Nachkriegs-Neapel stellen die Segnungen zivilisatorischen Wohnkomforts die erste Etappe auf dem Weg nach oben dar. Lila, die am Ende des ersten Bandes sechzehnjährig und opportunistisch den Selchersohn Stefano heiratet, erfreut sich, wenn schon nicht am Gatten, an Fließwasser und WC. Lenù hingegen, von Amor in Form des ehebrecherischen Eisenbahnersohns Nino Sarratore erst spät im Leben gut bedient, wühlt sich stattdessen lustvoll durch die Literatur.

Kleiner Ort für große Bücherliebhaber

Die winzige Bezirksbibliothek mit den vergitterten Fenstern ist im Buch das Zentrum geistigen Voranschreitens. Dort wird in bester Bibliomanenmanier ausgeliehen und gelesen, und dazu wird alles, was Lenchen im Gymnasium erfährt, treulich an Lila weitergeben. Die selbstlernende Geistesleuchte schafft es dann auch, der Studentin Lenù im Altgriechischen und in einer Arbeit über Dido zu zeigen, wo der Bartl den Most holt.

Heute freuen sich in der Biblioteca Andreoli euphorische Mitarbeiter über jede besuchende Ferrantesin, Männer sind, wenn, dann eher wegen "man weiß ja nie in Neapel" dabei. Man wird gebeten, sich nach Betrachtung der Filmfotos ins Bibliotheksregister einzutragen. Dort stehen in Monatsabständen deutsche, französische und angelsächsische Namen zwischen den vielen Chiaras, Raffaellas und Marios, die hier tatsächlich verweilen, um tatsächliche Bücher zu studieren. An Büchern wird in Ferrantes Werk nicht gespart. Gleich zu Beginn, als die Mädchen ihre Fetzenpuppen durch ein Kellergitter werfen und sie vom grimmen Hausbesitzer Don Achille Geld für neue erhalten, investieren sie dieses in den Roman "Betty und ihre Freundinnen". Trivia-Fans aufgepasst: Der (für Erwachsene?) unerträgliche Roman "Little Women" schlägt Anfang 2020 neu verfilmt in den Kinos auf.

Neapel für Ferrantesen

Da Luzzatti beim besten Willen nichts Pittoreskes hergibt, bringen die Ferrante-Guides ihre Leutchen nach einem Rundblick direkt in die Behausungen der Viertelbewohner, um 35 Euro auch in deren Küchen auf dreigängige Menüs (mit Limoncello). Marketingtechnisch wirklich unerquicklich ist, dass bei Ferrante nicht gegessen wird. Der einzige Trieb, der gestillt wird, ist selbstredend der Lesehunger.

Zwar sind Mütter und Mädchen andauernd mit Küche und Kochen beschäftigt, die Protagonisten selbst bekommen jedoch kein einziges Gericht der berühmten "cucina napoletana" vorgesetzt. Nicht einmal Pizza. Also führt man den Fan-Club in die Irre, auf einen Happen rohen Kabeljaus in einen Fischladen etwa oder gleich in die Altstadt auf einen "Lila, der Schuhmacherin gewidmeten" Teller Gnocchi allo scarpariello. Nach Schusterart also, wobei man besser nicht nachfragt, woher dieser Muße und Platz für die Bereitung von Erdäpfelnockerln gehabt hätte.

Dröges Viertel

Weiter auf den Spuren Lilas und Lenùs aus dem "rione" hinaus: Diese enden nur im Buch an der Unterführung, durch welche die Mädchen einst versuchten ans Meer zu gelangen (Schlüsselszene!). Ist das dröge Viertel erst einmal überwunden, gibt es heute kein Halten mehr: auf zu schmuckeren Ortsteilen, die mit der "Genialen Freundin" höchstens assoziativ in Verbindung gebracht werden können.

Port'Alba und Via Mezzocannone, einst Bouquinisten- und Buchhändlerreviere (die Mädchen lasen doch so gern!), sind das Einfallstor ins historische Zentrum. Hier werden die folgsamen Ferrantesen (weil doch auch viel von Kellern die Rede ist) gern auf eine Besichtigung des unterirdischen Neapels, ins "Napoli Sotterraneo", geschickt. Eine private Geldmaschine ersten Ranges, deren Konzession der Stadt zwar jährlich nur 10.000 Euro einbringt, während von den in den Tuffsteintunnels kurz heruntergekühlten jährlich 100.000 Besuchern aber satte zehn Euro pro Tour abkassiert werden.

Modeladen-Mahlstrom

Kaum eine Ferrante-Pilgerreise bemüht den "Rettifilo", den lauten, schmutzigen, aber konsumistisch gut aufgestellten Corso Umberto, wo Lila ihr Brautkleid kauft. Man schiebt sich stattdessen durch die Fußgängerzone der Via Toledo, heute ein Modeladen-Mahlstrom, den die beiden Mädels höchstens einmal auf ein spendiertes Eis streiften. Im Sog der Fashion-Victims wird man auf die gigantische Piazza Plebiscito gespült (hier bummelte die Luzzatti-Clique zumindest im Film vorbei) und ins Caffè Gambrinus auf einen überteuerten Cappuccino.

Um die Ecke eröffnet sich der kauflustigen Touristin eine weitere Einkaufsmeile: die an ihrem Ende schicker und teurer werdende Via Chiaia, die in die schmucke Piazza dei Martiri mit ihren Steinlöwen mündet. Hier weisen findige Führer den Ferragamo-Shop als jenen Laden der Mafiosi Solara aus, in dem Lila als Schuhdesignerin werkt. Wer jetzt wirklich dringend einkaufen muss, dem wird die Traditionsschneiderei Argenio ans Herz gelegt, bei dem maßgeschneiderte Cashmere-Jumper zu erwerben sind. In 200 Farben.

Die TV-Serie

Lila, unsere Intellektuelle, träumt von jeher davon, Herrenschuhe anzufertigen. Die ersten Selbstgeschusterten wandern bei ihrer Hochzeit vom Verlobten Stefano an die Füße des Mafia-Söhnchens Marcello, keiner kapiert so recht, wie und warum. Mit deren Auftreten im fiktiven Posilippischen Ballsaal endet der erste Band und damit auch die millionenfach verfolgte RAI-HBO-Fernsehserie. Die sieben Folgen waren ein Bombenerfolg. Hübsche Mädchen, kernige Kerle, Charakterköpfe und "südländische Typen" zuhauf. Auch an Requisiten und Kostümen wurde nicht gespart, einzig die amateurhaften Potemkin-Kulissen stören.

Das Viertel Luzzatti wurde im 45 Kilometer entfernten Caserta aufgebaut, die fadenscheinigen Fassaden der Läden und Lokale wirken billig wie Modelleisenbahnzubehör. Auch dass im Film die fröhlichsten Farben Mauve und Mausbraun sind, hat sicher dazu beigetragen, das Elend der Nachkriegsjahre direttissima in die Wohnzimmer und Herzen der Zuseherinnen zu transferieren. Ein Happen realer architektonischer Pracht wurde dann doch noch kurz abgefilmt: der majestätisch delabrierte Palazzo Donn'Anna und das schachtelartige Aragonesische Kastell auf Ischia. (Una Wiener, RONDO, 8.11.2019)