Im Gastkommentar erklärt Karin Strobl, ehemalige Kommunikationschefin der Grünen, warum es die grünen Sondierer nicht eilig haben sollten.

Die Aufwärmrunde ist noch nicht abgeschlossen, da kommentieren manche schon das Endergebnis von der Tribüne aus. Wenn nun auch Michael Völker (siehe "Überspringt das Vorspiel!") davon ausgeht, dass eine türkis-grüne Koalition "so gut wie fix" sei, muss an dieser Stelle mit einem Vergleich aus dem Skisport gekontert werden: Ein Slalom ist erst nach dem zweiten Durchgang entschieden. Konstruktive Sondierungsgespräche müssen nicht automatisch in einer gemeinsamen Regierung enden. Da warten noch einige Fallstricke: angefangen beim Verlieren des Gleichgewichts bis hin zum Einfädeln vor dem Zieleinlauf.

Bereits fünfmal kamen die Vertreter und Vertreterinnen der ÖVP und der Grünen zu Sondierungsgesprächen in großer Runde zusammen. Die Atmosphäre, so die beiden Parteichefs, sei von Respekt getragen und durchwegs positiv zu bewerten. Slalomfahren braucht physische Konstitution und ist auch Kopfsache – verhandeln ebenso. Selbstverständlich werden in Sondierungsgesprächen erstmals Themen ausgelotet. Dabei wird penibel darauf geachtet, dass die Balance für beide Seiten stimmt.

Balance statt Tempo

Mit der Festlegung auf fünf Kernthemenbereiche haben ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Grünen-Chef Werner Kogler die ersten Tore auf der Strecke gesetzt. Erst wenn es zu Regierungsverhandlungen kommen sollte, fällt der Startschuss für hartes Verhandeln. Das Tempo bestimmen allein die beiden Parteien. Übrigens dauerte es bei der zweiten Auflage von Rot-Grün in Wien mehr als fünf Wochen, bis man sich nach zähen Verhandlungen auf ein 200-seitiges Regierungsübereinkommen einigen konnte. Und das, obwohl es für Michael Häupl nur eine arithmetische Alternative gab, sich SPÖ und Grüne ideologisch näherstanden und sich die handelnden Personen gut kannten.

Auf einer Rennstrecke lauern gefährlich gesteckte Tore, doch ein Slalom ist erst nach dem zweiten Durchgang entschieden.
Foto: AP Photo/Michael Probst

53 Prozent der österreichischen Bevölkerung (Market-Institut, 21.10.2019) stehen einer türkis-grünen Koalition positiv gegenüber; mehr als 54 Prozent sehen die Grünen als regierungsfähig an. Das hat gute Gründe, haben die Grünen doch einen 33 Jahre langen Weg hinter sich und erfolgreiche Regierungserfahrungen im Gepäck. 1986 aus verschiedenen Bewegungen heraus gegründet, entstand ihr Gründungsmythos im Widerstand gegen die Abholzung der Hainburger Au. Dem späteren Parteichef Alexander Van der Bellen gelang es erstmals, aus der Widerstands- eine Konzeptpartei zu bilden. Ökologisches Umsteuern stand schon in den 1990er-Jahren hoch im Kurs und bestimmt die grüne Haltung bis heute.

Eine erstmalige Regierungsverantwortung konnten die Grünen 2003 in Oberösterreich übernehmen. Der heutige grüne Sondierer und jetzige Landesrat, Rudi Anschober, ging als Erster eine schwarz-grüne Koalition ein. In einem Industrieland haben die Grünen zwölf Jahre lang gezeigt, dass eine ambitionierte Umweltpolitik bei Einbindung aller Akteure ein Gewinn für Wirtschaft und Klima sein kann.

Gefährlich gesteckter Kurs

Unter der späteren Parteichefin Eva Glawischnig konnten die Grünen an Profil als Regierungspartei dazugewinnen. Für sie und andere sind die Grünen spätestens 2013 dort angekommen; wenngleich noch nicht auf Bundesebene. Dort rutschte die Partei 2017 auf glattem Eis aus – ein harter Aufprall samt Rauswurf aus dem Nationalrat folgte. Die "Neuaufrichtung" durch Werner Kogler ebenso.

Der erste Durchgang und die Neuausrichtung der Grünen sind in Summe erfolgreich. Sie haben zum einen bravourös den Wiedereinzug ins Parlament geschafft. Zum anderen haben sie in sechs Bundesländern unter Beweis gestellt, dass sie nicht nur die richtigen Ideen und Lösungsansätze haben, sondern diese auch in nachhaltige Maßnahmen umsetzen können. Das 365-Euro-Ticket in Wien und Vorarlberg, das Raumordnungsgesetz in Salzburg, das die Zersiedelung von Flächen und die Spekulation mit Baugrund eindämmt, bis hin zur Vorarlberger Lösung der Mindestsicherung – das alles sind Erfolgsprojekte, die aus dem politischen Handwerk des klugen Kompromisses erwuchsen.

Gut überlegtes Handeln

Auf der aktuellen Rennstrecke lauern gefährlich gesteckte Tore: Wirtschaftspolitik versus Klimaschutz. Restriktive Asyl- und Migrationspolitik versus Maßnahmen in der Integration. Dieselprivileg versus Ausbau von öffentlichem Verkehr. Kürzung von Beihilfen für Kinder versus Bekämpfung von Kinderarmut.

Die Nationalratswahl hat gezeigt, dass sich die Gesellschaft in Österreich verändert. Diese rasche Veränderung braucht als Gegenpol ein gut überlegtes politisches Handeln, das in Stabilität mündet. Politik ist nicht nur wie Skifahren. Geht es auf der Piste darum, als Erster durchs Ziel zu kommen, ist es in der Politik wichtig, so viele Tore wie möglich geschickt mitzunehmen. Dennoch möchte niemand im zweiten Durchgang aufgrund des Tempos am Ziel vorbeifahren. Sowohl die ÖVP als auch die Grünen dürfen – ja: sollten – sich daher die Zeit nehmen, um am Ende einen guten Platz für Österreich und seine Bevölkerung zu erzielen. (Karin Strobl, 5.11.2019)