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Im Gastkommentar weist Soziologe Jörg Flecker darauf hin, dass immer mehr Erwerbseinkommen nicht armutssicher sind – und dies eine "gefährliche Entwicklung" sei.

Ulrich Schuh kritisiert am KV-Abschluss der Metaller, dass die unteren Einkommen nun schon längere Zeit stärker angehoben werden als die oberen. DER STANDARD kommentiert das als eine "gefährliche Entwicklung". Diese Lohnpolitik führe nämlich dazu, dass die nun teureren Niedrigqualifizierten, die ohnehin einen großen Teil der Erwerbsarbeitslosen stellen, ihre Jobs – etwa durch Automation – verlieren könnten. Zwar profitieren nur wenige Metallarbeiter davon, weil die meisten ohnehin mehr verdienen, es ginge aber um den Signalcharakter des 2000-Euro-Mindestlohns für andere Branchen. Das Argument ist altbekannt, aber ist es noch zeitgemäß?

Höhere U-Bahn-Tickets führten in Chile zu Massenprotesten.
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Die Berichte aus Frankreich, Ecuador oder Chile legen eine andere Sicht nahe. Steuer- bzw. Preiserhöhungen haben dort das Fass zum Überlaufen gebracht: Durch Proteste und wahre Volksaufstände werden plötzlich Spannungen in der Gesellschaft sichtbar, die sich lange aufgebaut hatten. Im Grunde geht es um das Versprechen der kapitalistischen Lohnarbeitsgesellschaft, dass man auch ohne Besitz und privilegierte berufliche Position ein gesichertes Leben führen und am Konsum teilhaben kann. Ein Versprechen, das für große Teile der Bevölkerung nicht eingelöst wird.

Gutes Leben

Auch in Österreich ist der Niedriglohnsektor gewachsen, und von "Armut trotz Arbeit" sind nach Daten der Statistik Austria über 300.000 Personen betroffen. Die Mehrheit der Arbeitenden hält auch nach Jahrzehnten neoliberaler Überzeugungsarbeit hartnäckig am Anspruch auf volle gesellschaftliche Teilhabe und am Sozialstaat fest. Nach Logik arbeitgebernaher Ökonomen hat ein Teil der arbeitenden Bevölkerung die Wahl, entweder dadurch auf ein gutes Leben zu verzichten, dass sie niedrige Löhne bezahlt bekommen, oder dadurch, dass sie erwerbsarbeitslos werden, nachdem sie höhere Löhne durchgesetzt haben. Aber den Angestellten in den Supermärkten ist wohl klar, dass die Selbstbedienungskassen kommen werden, egal ob ihr relativ niedriges Gehalt nun ansteigt oder nicht. Und selbst wenn an dem Argument, dass die Anhebung der Niedriglöhne Arbeitsplätze kostet, etwas dran wäre: Sollte man dann nicht besser die Frage stellen, ob das eine wünschenswerte Ordnung ist, in der das Versprechen nicht eingelöst werden kann, dass Erwerbsarbeit mit einem existenzsichernden Einkommen verbunden ist?

Es ist eine Demütigung für die Betroffenen, viel zu arbeiten und auf diese Weise einen großen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, aber dennoch Angst haben zu müssen, keine bezahlbare Wohnung zu finden oder sich eine teure Zahnbehandlung nicht leisten zu können. Dass immer mehr Erwerbseinkommen nicht armutssicher sind, würde ich als "gefährliche Entwicklung" bezeichnen – für die Betroffenen ebenso wie für die gesamte Gesellschaft. (Jörg Flecker, 6.11.2019)