In städtischen Kinderheimen wie jenem am Wilhelminenberg kam es zu zahlreichen Übergriffen.

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Wien – Ein Jahr hatte man ursprünglich für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Kinderheimen der Stadt Wien veranschlagt, neun Jahre hat es gedauert. "Die Zahl der Meldungen überstieg alle Erwartungen um ein Vielfaches", teilte der Weiße Ring am Mittwoch mit, als die Opferschutzorganisation den Abschlussbericht online stellte.

Insgesamt haben sich 3.139 Personen gemeldet, 2.384 Betroffene erhielten finanzielle Unterstützung. Statt ursprünglich geschätzt zwei Millionen Euro wurden 52,53 Millionen aufgewendet. Der Weiße Ring war 2010 von der Stadt damit beauftragt worden, Unterstützungsmaßnahmen für Menschen, die im Rahmen ihrer Unterbringung in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt zwischen 1945 und 1999 Opfer von Gewalt geworden waren, vorzubereiten und durchzuführen.

"Unfassbares Leid"

Ein Gremium aus acht Experten entschied in 71 Sitzungen über die finanziellen Leistungen. Im Durchschnitt wurden 17.700 Euro pro Person ausbezahlt. Allen Betroffenen wurde auch Psychotherapie angeboten. Von den genehmigten rund 144.400 Einheiten wurde knapp die Hälfte auch tatsächlich in Anspruch genommen. Zusätzlich nahmen 160 Menschen Rechtsberatung in Anspruch.

Der Großteil der Betroffenen hatte vor Eröffnung des Aufarbeitungsprojekts dem Bericht zufolge keine psychotherapeutische oder psychologische Unterstützung gesucht, vor allem auch wegen negativer Erfahrungen mit Ärzten, Psychologen und Psychiatern in jungen Jahren. Die Auseinandersetzung mit der einst erlittenen Gewalt stelle daher eine neuerliche psychische Belastung dar, könne aber auch als ein Schritt zur Bewältigung gesehen werden, heißt es im Abschlussbericht. Die Mehrheit der ehemaligen Heimkinder sprachen nach vielen Jahren das erste Mal über ihre Erfahrungen, dem "Zuhören und Ernstgenommenwerden" (Zitat eines Betroffenen) wurde ein hoher Stellenwert eingeräumt.

Im Zuge der Aufarbeitung wurde und wird auch aktuell in der Servicestelle der MA 11 (Wiener Kinder- und Jugendhilfe) die Möglichkeit geboten, Einsicht in die Kinderakten zu nehmen, was für die Betroffenen oft belastend ist. Der Weiße Ring hielt fest, dass seine Mitarbeiter für die Aufarbeitung der Vorkommnisse in den städtischen Einrichtungen "eine wesentliche Unterstützung" durch die MA 11 bekommen hätten.

ORF

"Zeichen der Anerkennung"

Udo Jesionek, Präsident des Weißen Rings, dankte den Betroffenen für ihr Vertrauen: "Ich hoffe, dass wir durch unsere Tätigkeit dazu beitragen konnten, ein Zeichen der Anerkennung des großen Leides zu setzen, das ihnen widerfahren ist." Der Abschlussbericht der Opferschutzorganisation ist, so steht auf Seite 3 des 88-seitigen Berichts, "allen Menschen gewidmet, die in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt Gewalt erlebt haben – auch jenen, die bis heute nicht darüber gesprochen haben".

Der größte Teil der Betroffenen, die eine finanzielle Unterstützung erhielten, – nämlich fast zwei Drittel – ist in den Jahren 1950 bis 1969 geboren, ist also im Alter zwischen 50 und 69 Jahren. Manche der Betroffenen hatten mehrere Heime durchlaufen, am häufigsten waren zwei Unterbringungen pro Person.

Dem Weißen Ring wurden im Rahmen des Projekts insgesamt 119 Heime sowie zahlreiche Pflegefamilien genannt, in denen Gewalt ausgeübt worden war. Bei rund der Hälfte gab es Gewaltübergriffe, ein Drittel berichtete auch von sexueller Gewalt. Die 15 am häufigsten genannten Unterbringungsorte stehen für Dreiviertel der Unterbringungen mit Berichten von Gewalterfahrung.

Liste der 15 am häufigsten genannten Unterbringungsorte, darunter auch Pflegeeltern. 75 Prozent der Berichte von Gewalterfahrung betrafen diese 15 Orte.
Screenshot: Abschlussbericht Hilfe für Opfer von Gewalt in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt

Johannes Köhler, Leiter der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, teilte zu den Umfängen der Gewalterfahrungen mit: "Es ist für uns heute schwer zu verstehen, wie unsere Institution, die dem Kinderschutz verpflichtet ist, so vielen Kindern und Jugendlichen so unfassbares Leid zufügen konnte."

"Zutiefst entschuldigen"

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) sieht es als "unsere Pflicht als Stadt, unsere Verantwortung wahrzunehmen, geschehenes Unrecht ohne Relativierung anzuerkennen und uns dafür aufrichtig und zutiefst zu entschuldigen". Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorsky (SPÖ) sieht in den Taten "ein Kapitel der Geschichte, das nie hätte geschrieben werden dürfen".

Die Wiener ÖVP sieht die Situation nach wie vor angespannt. Die Wiener Jugendwohlfahrt leide "nach wie vor an einem eklatanten Personalmangel und fehlenden finanziellen Mitteln. Das darf heute nicht der Nährboden für die Skandale und Missbrauchsfälle von morgen sein", warnte Familiensprecherin Sabine Schwarz in einer Aussendung. Sie kritisierte zudem, "warum die Stadtregierung missbrauchten Heimkindern die Möglichkeit genommen hat, weiter Entschädigungszahlungen geltend zu machen". (Gudrun Springer, 6.11.2019)