Europa ist die Summe seiner Staaten und deren Entwicklung. Abspaltungstendenzen innerhalb der EU können daran nichts ändern.

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STANDARD: Hat der Brexit die Diskussion über Europa und die EU in den anderen Ländern verändert?

Itzel: Seit langem wird bemängelt, dass es keine europäische Öffentlichkeit gebe. Aber bereits in den letzten Jahren haben, eventuell auch bedingt durch die Krisen in Europa, die europaweiten Debatten meiner Wahrnehmung nach stark zugenommen. Eurobarometer-Umfragen sagen darüber hinaus, dass die Zustimmung zur EU wieder steigt und rund 70 Prozent der Europäer und Europäerinnen denken, dass die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU vorteilhaft ist. Dies ist der höchste Wert seit 1983.

STANDARD: Die Briten waren immer schon europakritischer. Ist der Brexit eine logische Folge davon?

Itzel: Wir zeigen in unserem Haus die gesamte Geschichte der Mitgliedschaft der Briten. Unsere Kuratoren haben während des Referendums 2016 in London und seither kontinuierlich Objekte zum Brexit gesammelt. Die Briten haben immer schon Ausnahmen von der europäischen Integration durchgesetzt, beispielsweise sind sie nicht Mitglied des Schengenraums.

STANDARD: Haben die Menschen in Europa auch etwa gemeinsam?

Itzel: Es gibt zahlreiche Geschichtsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts, die für ganz Europa prägend waren, auch wenn sie ganz unterschiedlich erlebt wurden und erinnert werden. Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts haben sich beispielsweise stark gegenseitig beeinflusst. Jahrhunderte der Kriege und Jahrhunderte der Kooperationen verursachten einen ständigen Austausch und einen Einfluss aufeinander. Das sieht man stark am Kulturerbe, der Ideengeschichte, der Musikgeschichte, auch der Kulinarik. Diese Einflüsse aufeinander werden oft vernachlässigt, wenn man sagt, dies oder das ist für diese oder jene Region typisch. Europa ist ja im Vergleich zu anderen ein sehr kleiner Subkontinent.

STANDARD: Man müsste einfach viel öfter miteinander speisen?

Itzel: Das ist eine gute Idee. Das kulinarische Erbe erzählt spannende Geschichten von Kulturtransfer, sowohl innerhalb Europas als auch durch Kontakte mit anderen Kontinenten.

STANDARD: Europäische Nation vs. Europa der Nationen – in welche Richtung schlägt das Pendel aus?

Itzel: Vorweg: Ich würde den Begriff der Nation nicht auf Europa übertragen, da er häufig eng auf ethnische und sprachliche Charakteristika Bezug nimmt. Er wird der Vielfalt innerhalb Europas nicht gerecht. Ich glaube weder, dass es zu einer europäischen Nation, noch dass es zu einem reinen Europa der Nationen kommen wird. Die Notwendigkeit, über die Staatsgrenzen hinweg intensiv zusammenzuarbeiten, ist aus der Geschichte heraus hinlänglich bekannt und ergibt sich auch aktuell aus den globalen Herausforderungen, die nicht an Grenzen haltmachen. Europa braucht eine Organisationsform, die gleichzeitig die Vielfalt erhalten und aktuelle Probleme auf der effizientesten Regierungsebene angehen kann.

STANDARD: Wo sehen Sie aktuell die politischen Bruchlinien innerhalb Europas?

Itzel: Es existieren noch starke Ost-West-Bruchlinien. Zum Beispiel mit Blick auf das unter der stalinistischen Diktatur erlittene Leid. Hier plädieren die Betroffenen oft für mehr Anerkennung. Das Wissen in Westeuropa über die Geschichte Mittel- und Osteuropas ist oft viel geringer als umgekehrt. Die Art der Wahrnehmung scheint teils noch von der Propaganda aus der Zeit des Kalten Krieges beeinflusst. Darüber hinaus ist aber zu beobachten, dass Bruchlinien teilweise weniger regional sind, als vielmehr mitten durch die Gesellschaften gehen. Da geht es um die Frage, ob man sich als Bürger einer pluralistischen Gesellschaft sieht oder sich eine Bindung an eine lokale Gemeinschaft wünscht, die möglichst homogen ist und durch Grenzen geschützt wird. Dies steht sicher häufig in Zusammenhang mit dem Gefühl mangelnder Teilhabe am Wohlstand und an politischen Entscheidungen.

STANDARD: Gibt es unter jungen Menschen ein Bewusstsein für die Geschichte Europas?

Itzel: Erstaunlich ist, dass wir viele junge Besucher auch unter den Individualbesuchern haben. Das Interesse scheint also da zu sein. Das Wissen über die Geschichte ist aber bei vielen Leuten, egal welchen Alters, gering, sobald es um die Geschichte anderer Länder oder gar Gesamteuropas geht. Das ist eine Folge der Tatsache, dass Geschichte hauptsächlich aus nationaler Perspektive unterrichtet und betrachtet wird.

STANDARD: Sehen Sie Parallelen darin, wie Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg behandelt wurden und wie heute?

Itzel: Grundsätzliche Parallelen in der Frage, wie man mit Minderheiten umgeht und beginnt, diese auszugrenzen, sehen wir sehr wohl. Direkte Schlüsse lassen sich aber schwer ziehen. In der Zwischenkriegszeit haben sich viele der neugegründeten europäischen parlamentarischen Demokratien in kurzer Zeit in autoritäre Regime verwandelt. Das kann als Warnung gelten, wie zerbrechlich Demokratie und Menschenrechte sind. Mit Blick auf Gesamteuropa ist prinzipiell festzustellen, dass Europa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Auswanderungskontinent war. Das wird heute oft vergessen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 7.11.2019)