DDR-Erzeugnisse erfreuen sich heute wieder einer gewissen Beliebtheit. Nach der Wende jedoch hatten die Ostdeutschen zunächst großen Appetit auf Westwaren.

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Es gibt ein Reizwort, das im Osten Deutschlands 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch Unmutsbekundungen auslöst: Treuhand – jene Anstalt des öffentlichen Rechts, die nach der Wiedervereinigung die Aufgabe hatte, 8500 volkseigene Betriebe der DDR nach Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft zu privatisieren.

Die Treuhand hat unsere Betriebe plattgemacht, Filetstücke verscherbelt und nur Arbeitslose hinterlassen. So lauten die Vorwürfe heute noch. In seltener Einigkeit fordern Linke und AfD einen U-Ausschuss zur Arbeit der Behörde. Von der "Schocktherapie der Treuhandanstalt hat sich der Osten nie erholt", sagt Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch.

Doch gegen dieses Narrativ gibt es Widerspruch. "Man macht es sich zu einfach, wenn man der Treuhand einfach die Schuld für alles zuschiebt, was in den letzten dreißig Jahren schieflief in Ostdeutschland", sagt Norbert Pötzl.

Der ehemalige "Spiegel"-Journalist konnte als Erster die nach den gesetzlichen Vorschriften bisher gesperrten Treuhand-Akten sichten und unter anderem Protokolle über die Arbeit des Vorstands und Verwaltungsrats auswerten.

Währungsunion als Problem

In seinem Buch "Der Treuhandkomplex – Legenden. Fakten. Emotionen" (Verlag Kursbuch-Edition) räumt er mit einigen Vorurteilen auf und beschreibt Kuriositäten. Etwa, dass die Ost-Ministerpräsidenten im Verwaltungsrat der Treuhand saßen und alle Entscheidungen mit absegneten. Das hinderte sie später aber nicht daran, lautstarke Kritik zu üben.

Vergessen werde auch, so Pötzl, dass bei der Währungsunion am 1. Juli 1990 auf Druck der Ostdeutschen Löhne und Gehälter im Verhältnis 1:1 umgetauscht wurden. Dem realen Kurswert der DDR-Mark hätte eigentlich ein Umtauschsatz von etwa 1:4 entsprochen. "Dies", so Pötzl, "hätte jedoch die Menschen in tiefste Armut und Sozialhilfe getrieben."

Für die Betriebe aber war der Tauschkurs ruinös, weil sich die Produkte faktisch um 400 Prozent verteuerten und nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Hinzu kam, dass die Arbeitsproduktivität in der DDR aufgrund veralteter Anlagen und personeller Überbesetzung nur etwa ein Drittel des Westniveaus betrug.

Mär stimmt nicht

Am Beispiel des legendären thüringischen Kali-Bergwerks Bischofferode zeigt der Autor, dass die Mär vom profitablen Ost-Betrieb, der für die West-Konkurrenz, die Kali+Salz AG, weichen musste, nicht stimmt. Die Investmentbank Goldman Sachs hatte im Auftrag der Treuhand 47 potenziellen Investoren weltweit die Mitteldeutsche Kali AG angeboten, zu der Bischofferode gehörte. Niemand griff zu, weil am Weltmarkt schon zu viel Kali angeboten wurde.

Pötzl sah sich auch die Statistiken an. Am 1. Jänner 1990 gab es in der DDR rund neun Millionen Beschäftigte, davon etwa vier Millionen in den später der Treuhand unterstellten Betrieben. Ein halbes Jahr später, als die Treuhand ihre Arbeit aufnahm, waren es noch 3,5 Millionen. Von den 500.000 hatten viele neue Jobs gefunden, waren in den Westen übersiedelt oder in Pension gegangen. Hunderttausende waren auch von ostdeutschen Betriebsleitern entlassen worden.

Glücksritter und Kriminalität

Pötzl: "Aber irgendwie werden sie alle als Opfer der Treuhand verbucht, genauso wie jene, die in ganz anderen Sektoren, die nicht der Treuhand unterstellt waren, entlassen wurden, etwa bei der Reichsbahn oder bei den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften." Es wurden auch nicht die meisten Betriebe liquidiert, sondern 30,6 Prozent. Das deckt sich mit Schätzungen des letzten SED-Ministerpräsidenten Hans Modrow. Er stufte in der letzten Phase der DDR 27 Prozent der Betriebe als konkursreif ein.

Natürlich habe es bei der Privatisierung auch "Glücksritter", Kriminalität und "bisweilen korrupte Treuhand-Mitarbeiter" gegeben, sagt Pötzl. Aber kriminelle Machenschaften seien nicht so verbreitet gewesen, wie heute noch behauptet wird. Pötzl zitiert Staatsanwalt Daniel Noa, den letzten Leiter der Treuhand-Stabsstelle Recht. Dieser meinte in seiner Schlussbilanz, bei den 40.000 Privatisierungsvorgängen, durchgeführt von 6000 Personen, habe das "kriminelle Potenzial (...) nicht über dem in der Gesellschaft auch sonst vorhandenen" gelegen.

"Ossis" werden nicht geschont

Die "Ossis" selbst schont Pötzl auch nicht. Sie selbst hätten zum Niedergang beigetragen, indem sie sich auf Westprodukte stürzten und einheimische Erzeugnisse verschmähten. "Der neue Wartburg mit VW-Motor ist ein solides Auto gewesen, aber lieber kaufte man gebrauchte Fahrzeuge aus dem Westen und ließ sich manch schrottreife Kiste andrehen."

Man dürfe die Fakten nicht außer Acht lassen, fordert Pötzl. Denn: "Der falsche Schuldvorwurf, der Westen habe den Osten ausgeplündert und plattgemacht, befördert die Spaltung des Landes." Er rät zu mehr Differenzierung: "Natürlich haben viele Familien Leid erfahren. Aber viele stilisieren sich auch als Opfer der Treuhand. Das ist beleidigend für die wirklichen Opfer." (Birgit Baumann aus Berlin, 7.11.2019)