Auf dem Kaliber El Primero fußt der Wiederaufstieg der Uhrenmarke Zenith.

Foto: Zenith

Frau Vermot war verunsichert. Seit einiger Zeit verhielt sich ihr Ehemann Charles anders als sonst. Er, der verlässliche Uhrmacher, der frühmorgens pünktlich das Haus verließ, um den Bus zu seinem Arbeitsplatz bei Zenith in Le Locle zu nehmen, und ebenso pünktlich am späteren Nachmittag wieder nach Hause kam, machte zuletzt viele Überstunden. Sogar am Wochenende schlich er sich davon. Schweigsam war er geworden.

Auch sein Sohn Michel konnte die Fragen seiner Mutter nicht beantworten. Er erinnert sich: "Hat er gar eine Affäre?", habe ihn seine Mutter bang gefragt. "Ich habe im Moment viel zu tun", wich der Vater den immer drängenderen Fragen seiner Familie aus, erzählt Michel. Wie konnten Mutter und Sohn auch wissen, welche Nöte ihn damals im Jahr 1975 umtrieben? Und welch folgenschwere, einsame Entscheidung der Chronografenexperte für sich getroffen hatte.

Uhrmacher Charles Vermot in seinem Element: Er bewahrte das erste automatische Chronografenwerk der Welt vor der Zerstörung.
Foto: Fred Merz

Damals steckte nicht nur der Uhrenhersteller Zenith, 1865 von Georges Favre-Jacot gegründet, in einer schweren, lebensbedrohlichen Krise. Die gesamte Schweizer Uhrenindustrie war nur noch ein Schatten ihrer selbst: Denn die neue, zu jener Zeit revolutionäre Quarztechnologie war dabei, die (Uhren-) Welt zu erobern.

Lebensbedrohend

Ein Ereignis, das als "Quarzkrise" in die Annalen eingehen sollte. Mit nie gekannter Präzision stürmte die Quarzuhr den Markt. Ölkrise und Dollarverfall taten ihr Übriges. Kaum jemand glaubte damals an das Überleben der mechanischen Zeitmessung.

Schon gar nicht die damaligen amerikanischen Besitzer der Uhrenmarke Zenith. Die Anweisung aus Übersee lautete: Die Produktion sämtlicher mechanischer Uhren ist auf der Stelle zu stoppen, Maschinen und Werkzeuge sind per sofort zu verschrotten, Baupläne zu vernichten. Die Entscheidung war endgültig.

Anlässlich des Jubiläums wurde auch auch jene Uhr wiederaufgelegt, in der das Original-El-Primero-Kaliber ursprünglich verbaut war, die A384.
Foto: Zenith

Charles Vermot sah sein Lebenswerk vor die Hunde gehen: Jahrzehntelang war er der Firma treu gewesen, war stolz auf seine Arbeit und vor allem auf das erst vor wenigen Jahren, 1969, nach sieben Jahren Entwicklungsarbeit fertiggestellte Kaliber El Primero. Es war das erste automatische Chronografenkaliber der Welt.

Eine Leistung, die in der Uhrenbranche dem Sieg im Wettlauf zum Mond gleichkam. Denn mehrere Player wollten sich diesen Erfolg auf die Fahnen heften, darunter Seiko und die Chronomatic Group, zu der damals noch heute so klingende Namen wie Breitling, Heuer oder Dubois Dépraz gehörten.

Im Alleingang

Geschafft hat es schließlich Zenith: El Primero, "der Erste", war ein Meisterstück, dessen Herz mit 36.000 Halbschwingungen schlug. Ein Schnellschwinger, der die Uhrenmanufaktur in eine neue Epoche der präzisen Zeitnehmung führen sollte. Wenige Jahre sah es auch ganz danach aus, El Primero verkaufte sich gut. Aber die Quarzuhr beendete diesen Höhenflug mehr als gründlich.

Zenith Manufaktur in Le Locle: Die Wirkstätte von Charles Vermot, wie sie heute aussieht.
Foto: Zenith

Vermot appellierte an die Eigentümer: "Sie irren sich, wenn Sie an das völlige Ende des mechanischen Chronografen mit Automatikaufzug glauben", schrieb er. Vergeblich. Die Amerikaner ignorierten ihn nicht einmal. Er fasste daher den folgenschweren Entschluss, El Primero quasi im Alleingang zu retten.

Auf dem Dachboden

Abend für Abend über rund sechs Monate brachte er Gesenke, Nocken, Schneidwerkzeuge fort, mauerte sie in einem Dachboden in einem abgelegenen Gebäude auf dem Firmengelände ein. Ein Vorgang, der mit den heutigen Sicherheitssystemen kaum mehr vorstellbar wäre.

Jedes Teil, jedes Werkzeug beschriftete er fein säuberlich, erstellte Listen, hielt den Fertigungsprozess bis ins kleinste Detail in einem Notizbuch fest, das er in einer Holzkiste auf demselben Dachboden versteckt hielt.

Insubordination

Vermot war sich stets darüber im Klaren, dass es sich dabei um "berufliches Fehlverhalten" handelte, wie er selbst zu Protokoll gab. Eine für Schweizer Verhältnisse fast schon anmaßende Insubordination. Und ein maßgeblicher Teil der Legende, die El Primero heute umweht.

Jahrgang 2019: die limitierte Defy El Primero mit Doppeltourbillon.
Foto: Zenith

Vom heutigen Standpunkt aus ein veritabler Glücksfall für Zenith. Aber bis dahin sollten noch einige Winter ins Jura ziehen, freudlose Jahre für Charles Vermot, der sein Geheimnis mit in die Rente nahm.

In den 1980ern kündigte sich ein Umbruch an. So warb etwa die frisch revitalisierte Marke Blancpain mit dem selbstbewussten Slogan: "Seit 1735 gibt es bei Blancpain keine Quarzuhren. Es wird auch nie welche geben."

Es waren dies die ersten Anzeichen für das, was Charles Vermot gehofft hatte: Die mechanische Uhr kämpfte sich zurück ans Tageslicht. Entscheidend war Nicolas G. Hayek, der ironischerweise mit seiner günstigen Quarzuhr Swatch den Weg zur Rückkehr der Uhrenindustrie zu alter Stärke einleitete.

Rolex klopft an

Zenith hatte in der Zwischenzeit einen neuen Besitzer, Paul Castella, der mit allen Mitteln versuchte, die Uhrenbranche im gebeutelten Le Locle, immerhin eine Wiege der Schweizer Uhrmacherkunst, wieder aufzupäppeln. Just zu dieser Zeit klopfte ein ganz großer Player an die Fabrikstore von Zenith: Rolex.

Die Genfer hatten nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber der Quarzuhr gemacht und wollten nun ihren heute heiß begehrten Chronografen Daytona mit einem zuverlässigen Automatikwerk ausstatten. Man erinnerte sich an die Errungenschaften aus Le Locle und wollte das El-Primero-Kaliber. Und zwar in rauen Mengen.

Beweise

Eine Ansage, die bei Zenith hektische Betriebsamkeit und heftiges Kopfzerbrechen auslöste: Wie sollte man diesem Auftrag, der einer Rettung gleichkam, nachkommen? Neue Maschinen zu beschaffen würde ein Vermögen kosten, die Baupläne für das Kaliber waren ja offiziell vernichtet.

Entfernte Verwandte: die Defy Inventor mit einem Regulierorgan aus Silizium.
Foto: Zenith

Man begann zu recherchieren, fragte bei pensionierten Mitarbeitern nach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man auf Charles Vermot kam. Der hatte der neuen Direktion etwas zu zeigen ...

1984 stand er wieder vor jener Mauer, hinter der er 1976 seinen Schatz verborgen hatte. "Es kann doch nicht möglich sein, dass wir ganz umsonst so hart an einem Kaliber gearbeitet hatten", soll er gesagt haben, als er den Dachboden betrat.

Eine Legende

Er deutete auf die Holzregale, die jahrelang die Beweise für seinen Ungehorsam aufbewahrt hatten. Das Geheimnis war offenbart. Man kann sich gut vorstellen, wie erleichtert Vermots Familie gewesen sein muss: Nun ergab sein seltsames Verhalten endlich einen Sinn. Die Geschichte sprach sich schnell herum, ein (bescheidener) Held war geboren, Zenith hatte seine Legende.

"Ich hätte mein Leben darauf verwettet, dass die Produktion dieses Chronografen eines Tages wiederaufgenommen wird", sagte Vermot 1991 dem Schweizer Fernsehen RTS. Also zur Hölle mit all diesen "Totengräbern der mechanischen Uhr".

Schwarzes Schaf: die Defy El Primero 21 mit einem Vollcarbongehäuse.
Foto: Zenith

Das allein genügt natürlich nicht, um erfolgreich zu sein. Wie ging es also weiter? Parallel zu den ersten Lieferungen an Rolex nahm Zenith die Produktion mechanischer Uhren wieder auf, um neue Chronos mit dem hauseigenen Kaliber auszustatten.

Das war weniger schwierig, als sich wieder einen Namen als Marke zu machen. Dass dies gelungen ist, macht spätestens die Übernahme des Unternehmens durch LVMH 1999 deutlich. Der weltgrößte Luxuskonzern folgte damit quasi dem Zeitgeist.

Denn in den 1990ern schenkte ein zahlungskräftiges Liebhaberpublikum der mechanischen Uhr wachsende Aufmerksamkeit. Unternehmen der Luxuswelt war dies nicht entgangen, und so kauften diese Uhrenhersteller mit hohem Mehrwert zu. 2001 erwarb Richemont beispielsweise die Glashütter Uhrenmarke A. Lange & Söhne, die erst 1990 wiederauferstanden war, ein Jahr davor kam IWC Schaffhausen dazu.

Schnellschwinger

Unter der Ägide des LVMH-Konzerns wurde das El Primero weiter zum wichtigsten Standbein der Marke ausgebaut. Es folgten Zeitmesser mit Komplikationen wie Tourbillon, ewiger Kalender, Minutenrepetition ... 2017 präsentierte man mit der Defy El Primero 21 eine Uhr, deren Motor mit 50 Hertz schwingt, es also auf 360.000 Halbschwingungen pro Stunde bringt, und mit der eine Hundertstelsekunde gemessen werden kann.

Ein Teil ersetzt 30: Zenith will mit dem neuen hochpräzisen Silizium-Schwingsystem (blau) die Zukunft der mechanischen Uhr einläuten.
Foto: Zenith

Vorläufiger Höhepunkt dieses Strebens nach extremer Präzision ist die im selben Jahr präsentierte Defy Lab, deren Oszillator aus einem Stück Silizium besteht und die seit Jahrhunderten bewährte Spiralfeder ersetzt.

Ein Ansatz, der weit über die klassische Uhrmachertradition hinausgeht und in der Uhrenwelt für erhebliches Aufsehen sorgte. Was hätte Charles Vermot, der im Jahr 2003 verstarb, wohl dazu gesagt? (Markus Böhm, RONDO exklusiv, 24.11.2019)

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INTERVIEW

Julien Tornare
Foto: Zenith

"Wir dürfen uns nicht auf der Geschichte ausruhen"

Julien Tornare lenkt seit 2017 die Geschicke von Zenith. Bei unserem Treffen in Wien ist der Schweizer bester Dinge und spricht offen über Traditionen, Authentizität und Bullshit-Marketing.

STANDARD: Eine tolle Story haben Sie da mit Charles Vermot und der Rettung des El Primero. Ihre Marketing-Abteilung muss sich ja täglich alle zehn Finger ablecken ...

Julien Tornare: Vermot ist der beste Beweis dafür, dass wir keinen Blödsinn erzählen in einer Welt voller Bullshit-Marketing. Das ist eine Geschichte, die wirklich in unseren eigenen vier Wänden passiert ist. Fakt ist: Die Leute lieben diese Story. Vor allem bei den Amerikanern kommt eine solche echte Heldengeschichte extrem gut an. Die Japaner wiederum können es kaum glauben, dass jemand überhaupt auf die Idee kommt, sich den Anweisungen der Bosse zu widersetzen.

STANDARD: Welche Rolle spielt Authentizität in der Uhrenbranche?

Tornare: Niemand wird sich hinstellen und sagen: Ich bin nicht authentisch. Aber was heißt das überhaupt? Nicht viele Uhrenmarken können glaubhaft behaupten, eigene Uhrwerke zu produzieren und Uhren zu verkaufen, die mit eigenen Werken ausgestattet sind. Eine lange Tradition zu haben heißt nicht automatisch, authentisch zu sein. Und es heißt schon gar nicht, dass man sich nicht auch um die Zukunft kümmern muss.

STANDARD: Wie schafft man den Spagat zwischen Tradition und technischem Fortschritt?

Tornare: Darüber mache ich mir ständig Gedanken. Man darf auf keinen Fall ständig die Vergangenheit wiederholen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe Uhren, und ich mag die Uhrenindustrie. Aber was mir auffällt: Es gibt eine Tendenz, ständig Althergebrachtes auszugraben. Meist heißt es da: Wir respektieren unser Erbe, unsere Tradition. Aber stimmt das wirklich?

STANDARD: Haben Sie eine Antwort gefunden?

Tornare: Wenn ich mir ansehe, mit welch bescheidenen Werkzeugen damals gearbeitet wurde und welche Hightech-Geräte heute verwendet werden – für im Wesentlichen dasselbe Produkt -, dann kann das mit dem "Respekt vor der Vergangenheit" kaum stimmen. Wir haben heute ganz andere Möglichkeiten, um Dinge umzusetzen. Wichtig ist also, eine gewisse Balance zu erarbeiten: Wir legen natürlich alte Modelle wieder auf, Heritage-Linien ... aber wir dürfen uns nicht darauf ausrasten, wir müssen nach vorne blicken und Neues in die Wege leiten. Man darf sich nicht auf der Geschichte ausruhen.

STANDARD: Was sagen die El-Primero-Veteranen zur Defy Inventor, die sich mit ihrem Silizium-Regulierorgan schon sehr weit vom klassischen Uhrmacherhandwerk entfernt?

Tornare: Sie halten die Defy für komplett verrückt, aber sie lieben sie. Ich war in der glücklichen Lage, einige der Protagonisten, die damals am Bau des El Primero beteiligt waren, treffen zu können. Was sie mir berichteten, kam mir sehr bekannt vor: Sie haben ähnliche Erfahrungen gemacht, was die Realisierbarkeit von Innovationen betrifft. (Markus Böhm, RONDO exklusiv, 24.11.2019)