"Caution: Radioactive Material" steht auf dem schwarz-gelben Aufkleber, daneben prangt das Strahlenwarnzeichen. Das ist der Grund, warum Bernard Portal die Besucher höflich, aber bestimmt wegstampert.

Portal, groß gewachsen, weißer Bart, Ohrring, könnte man sich "in Zivil" locker als Rocker vorstellen. Heute trägt er aber seine Arbeitskluft, einen weißen Uhrmacherkittel. Also was hat, bitte schön, eine solche Strahlenwarnung auf dem Arbeitsplatz eines Uhrmachers zu suchen?

Potenziell gefährlich

Die Erklärung: Bis in die 1960er-Jahre wurden radiumhaltige Leuchtfarben verwendet, um Uhren auch bei Dunkelheit ablesbar zu machen. Radium ist radioaktiv. Was an sich kein Problem ist, da die eingesetzte Menge gering ist.

Der Heritage-Workshop unter dem Dach der Uhrenfabrik in St. Imier
Foto: Longines

Der Grund für die potenzielle Gefahr ist daher weniger die Strahlenexposition für den Träger des Zeitmessers als vielmehr das radiologische Risiko für die Uhrmacher, die den Zeitmesser heute für den Service öffnen. Deshalb ist der mit Warnhinweisen versehene Arbeitsplatz auch in einem Extrakammerl untergebracht. Soll noch einer sagen, dieser Beruf bringe keine Risiken mit sich!

Tatsächlich gibt es zu Radium eine traurige Geschichte: Viele der damals mit dem Auftragen dieser Substanz beschäftigten Frauen sind an Krebs erkrankt. Denn sie leckten die Pinsel zur Befeuchtung an und sind auf diesem Weg mit dem radioaktiven Stoff in Berührung gekommen.

Historischer Wert

Heute ist Radium als Leuchtmittel verboten. Dennoch komme es hin und wieder vor, dass ein historisches Modell mit radioaktiven Leuchtindexen auf seinem Arbeitsplatz lande, schildert Portal, der die auf historische Uhren von Longines spezialisierte Werkstatt, den "Heritage Workshop", am Firmenhauptsitz in St. Imier leitet.

Natürlich würde man dem Kunden dann nahelegen, die Indexe zu tauschen. Ein schwieriges Unterfangen, zumal die Uhr damit ihre Authentizität – und damit ihren (historischen) Wert – verliert. Und das gilt es, vor allem aus Sicht des Vintage-Uhren-Sammlers, unbedingt zu vermeiden.

Einblick in die lange Firmengeschichte bietet das in die Fabrik integrierte Museum. Dort erfährt man beispielsweise, dass der Flugpionier Charles Lindbergh bei seinem Atlantikflug eine Uhr aus St. Imier mit an Bord hatte.
Foto: Longines

Zu tun haben die Mitarbeiter, sieben Männer und drei Frauen, allesamt Meister ihres Faches, jedenfalls auch ohne radioaktive Uhren genug. Japan, USA, Frankreich: Ein kurzer Blick auf die Herkunftsländer der zahlreichen Vintage-Uhren, die geduldig auf ihre Bearbeitung warten, gibt ihm recht.

Das und dass Longines 2015 einen einschlägigen Workshop als eigene Abteilung eingerichtet hat, sind Zeichen für einen Trend, der die Uhrenbranche seit einiger Zeit bewegt.

Geschäftsmodelle

"Vintage-Uhren werden seit sieben, acht Jahren verstärkt nachgefragt", stellt Eric Wind, ehemaliger Vizepräsident von "Christie's Watches" in den USA, fest. Wind gründete seine eigene Firma, Wind Vintage, nachdem er das Auktionshaus verlassen hatte. Sein Unternehmen hat sich auf das Auftreiben seltener Vintage-Uhren spezialisiert.

Ein gutes Geschäftsmodell: Denn in den vergangenen drei Jahren sei dieser Trend zunehmend in den Mainstream geschwappt, sagt Wind. "Ein Turbo dafür waren soziale Medien wie Instagram." Viele, überwiegend männliche, Sammler seien erst durch die dort gezeigten Aufnahmen auf historische Modelle aufmerksam geworden. Es ist feststellbar, dass sehr gefragte, hochwertige und teure Stücke vor allem auf Auktionen den Besitzer wechseln.

Longines bewegt sich höchst erfolgreich in einem Preissegment von 1.000 bis 3.500 Euro.
Foto: Longines

Beobachtet man die Preisentwicklung dort, erkennt man vor allem die üblichen Verdächtigen, die in Sachen Werterhalt sehr erfolgreich sind: Patek Philippe und Rolex. Beide Marken erzielen regelmäßig Höchstpreise mit besonders gefragten Vintage-Modellen. Erfolgreich auf Auktionen, Börsen und Verkaufsplattformen im Internet sind aber auch Marken wie Audemars Piguet, Vacheron Constantin, Omega, Zenith – und Longines.

Letztere wirkt in dieser Aufzählung fast wie ein Fremdkörper. Das mag daran liegen, dass Longines zu den meistunterschätzten Uhrenmarken der Branche zählt. Vermutlich weil man in St. Imier nicht die superteuren Luxusuhren baut, die viele automatisch mit "wichtig" gleichsetzen.

"The Longines Legend Diver Watch": Eine Hommage an das uhrmacherische Erbe der traditionsreichen Marke.
Foto: Longines

Tatsächlich bewegt sich Longines aber höchst erfolgreich in einem Preissegment von 1.000 bis 3.500 Euro. Der Umsatz wird auf über eine Milliarde Euro geschätzt, das Volumen liegt bei weit über eineinhalb Millionen Zeitmessern pro Jahr. Quarz spielt zwar noch eine Rolle, macht aber, heißt es bei Insidern, nur noch rund 30 Prozent aus. Der Rest ist solide Mechanik.

Richtig alt

Dennoch stellt sich die Frage: Was macht Longines für Vintage-Uhren-Liebhaber so anziehend? Es ist die lange Geschichte der Uhrenfabrik. Seit 1832 ist man in St. Imier ansässig, seit 1867 dort, wo die Fabrik auch heute noch ihren Standort hat. Bekannt war dieser als Les Longines, zu Deutsch etwa "lange Wiesen", womit auch geklärt wäre, wo der Name der Uhrenmarke herrührt.

Fun-Fact: 1889 ließ der damalige Besitzer das Markenzeichen der Fabrik, den Schriftzug in Verbindung mit der geflügelten Sanduhr, registrieren. Es ist somit das älteste unveränderte und noch heute verwendete Markenzeichen der Welt. 2018 wurde die fünfzigmillionste Longines-Uhr produziert.

Das Archiv ist auch eine nicht versiegende Quelle der Inspiration für Neuauflagen historischer Modelle, sogenannter Heritage-Uhren.
Foto: Longines

Von 1867 bis 1983, also bis zu dem Zeitpunkt, als Longines Teil der Swatch Group wurde und seit dem sie ihre Werke von der Konzerntochter Eta bezieht, baute man hier im beschaulichen Berner Jura eigene Kaliber. Zunächst in Taschenuhren und dann in Armbanduhren.

Es sind demnach jede Menge alter Longines im Verkehr mit teilweise recht spannenden Uhrwerken und entsprechender Geschichte. So trug Charles Lindbergh eine Uhr aus Sankt Immer (deutsch für St. Imier), als er den Atlantik überflog. Auch Albert Einstein hatte eine, ebenso wie Audrey Hepburn.

In der grassierenden Retrowelle kommt Longines das eigene Firmenarchiv zugute.
Foto: Longines

Das zeigt ein Rundgang durch das informative, firmeneigene Museum. Dort zu sehen ist auch der historische Teil des Archivs: Dicke in Leder gebundene Bände mit handschriftlichen Listen, die jedes Modell dokumentieren, das von 1867 bis Anfang der 1970er die Fabrik verließ. Danach wurde auf Mikrofilm und Kassetten zurückgegriffen.

Heute ist das gesamte Archiv digitalisiert. Ein unbezahlbarer Schatz: zum einen, weil man in der aktuell ebenfalls grassierenden Retrowelle eine Vorlage für sogenannte "Heritage"-Uhren, also wieder aufgelegte Modelle, findet.

Zum anderen, weil man damit Sammlern oder anderen Besitzern einer alten Longines einen besonderen Service anbieten kann: Gegen eine überschaubare Gebühr kann man sich einen Archivauszug seiner Uhr ausheben und schicken lassen. Circa 40 Anfragen gibt es täglich, ist zu erfahren.

Wert vervielfachen

Möchte man ein Echtheitszertifikat erlangen, muss man allerdings bereit sein, das gute Stück in die Schweiz zu schicken. Und Geld in die Hand zu nehmen. Gut möglich, dass die Uhr auf dem Tisch von Bernard Portal landet, der den Zeitmesser dann auf Herz und Nieren untersucht (und eventuell repariert).

Ein Kostenvoranschlag kann erst nach der Bestandsaufnahme abgegeben werden. Dieser Aufwand kann sich unter Umständen auszahlen: Mit einem solchen Dokument in der Tasche könnte sich der Wert der Uhr vielfachen.

Schätze in kleinen Schachteln: Im Magazin von Longines lagern tausende Original-Uhrenbauteile.
Foto: Longines

Auch die Uhren für das Museum kommen zuerst in den Heritage Workshop. Sollte einmal ein Teil zu ersetzen sein, kommt das Magazin ins Spiel. Portal führt in einen Raum mit breiten Blechkästen. Es ist die wahre Schatzkammer des Ateliers. Darin lagern tausende teils jahrhundertealte Ersatzteile, potenziell gut 100.000 Euro wert.

Hayek hatte recht

Viele davon haben nicht einmal eine Bezeichnung, schlicht weil es damals keine standardisierten Bezeichnungen gab. Ein Puzzlespiel, das schon eine ordentliche Portion Leidenschaft erfordert. Zumal auch die alten Teile selbst nicht standardisiert waren. So bleibt dem Fachmann, der Fachfrau oft nichts anderes übrig, als das eine oder andere Zahnrädchen nachzubearbeiten.

Die Pflege des Archivs habe ihm noch Swatch-Gründer Nicolas G. Hayek persönlich ans Herz gelegt, sagt Longines-Boss Walter von Känel. Er ist selbst ein Urgestein der Branche, ist er der Uhrenmarke doch seit 1969 treu. "Bau dein Archiv auf, es wird dir einmal bei Auktionen sehr nützlich sein", habe Hayek zu ihm gesagt, erinnert sich von Känel. Er sollte recht behalten. (Markus Böhm, RONDO exklusiv, 28.1.2020)

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