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Günther Grass galt als der "deutsche Nationaldichter". Ihn verband eine "Zwillingsfeindschaft" mit dem "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki.

Foto: Reuters / Susana Vera

Erst sechs Jahre ist es her, dass Marcel Reich-Ranicki starb; Günter Grass folgte ihm zwei Jahre später. Und doch wirkt es heute fast wie ein Märchen, dass es einmal einen Kritiker gab, den man ganz unironisch "Literaturpapst" nannte. Und einen Schriftsteller, der als "deutscher Nationaldichter" galt.

Noch unwirklicher erscheint im Rückblick die öffentliche Aufmerksamkeit für die beiden Kontrahenten. Selbst die literaturferne Bild-Zeitung interessierte sich dafür, wie nun Reich-Ranicki über das jeweils neueste Buch von Günter Grass urteilte. Oder ob der Autor seinem Kritiker noch die Hand gab.

Als "Zwillingsfeindschaft" bezeichnet Volker Weidermann das, was diese beiden herausragenden Protagonisten der westdeutschen Nachkriegsliteratur verband. Der Literaturreporter des Spiegel erzählt ihre fast sechs Jahrzehnte lange Rivalität in einem 300-seitigen Buchessay.

Mit dem Titel Das Duell ist schon die eine Leitmetapher dieser Doppelbiografie genannt. In der Tat handelte es sich meist um einen für beide Seiten publicityträchtigen Schaukampf in den Arenen des Literaturbetriebs. Manchmal war es auch ein Kampf beinahe auf Leben und Tod.

Missverständnisse und Polemiken

Nach seinem Totalverriss von Grass' letztem großen Roman Ein weites Feld soll Reich-Ranicki einen Selbstmord des Autors befürchtet haben. Jahre zuvor war der Autor der Blechtrommel vor seinem prominentesten Kritiker gar bis nach Kalkutta geflohen.

Genützt hat es nichts; über sein wirkmächtigstes Medium, die TV-Show Das Literarische Quartett, holte Reich-Ranicki ihn am Ende wieder ein. Wohl auch deshalb beschrieb Günter Grass ihre Beziehung einmal als "Zwangsehe".

Ambivalent wie diese Beziehung jedoch war, erscheint die zweite Leitmetapher des Buches treffender: die von einem Tanz nämlich, bei dem sich die Protagonisten jahrzehntelang immer wieder annäherten, umkreisten und voneinander entfernten.

Ein, wie Weidermann schreibt, "Messertanz" auf schwankendem Boden, mit Missverständnissen und Polemiken, aber eben auch mit überraschenden Liebeserklärungen und Beinahe-Umarmungen.

Zugleich erinnert Weidermanns Darstellung eindrucksvoll daran, wie sehr die Leben von Reich-Ranicki und Grass vom 20. Jahrhundert geprägt waren: Der eine überlebte mit seiner Frau gegen alle Wahrscheinlichkeit den Holocaust erst im Warschauer Ghetto, dann im Haus einer mutigen polnischen Familie.

Der andere trat mit 17 Jahren in die Waffen-SS ein. In seiner 60 Jahre lang verschwiegenen SS-Zugehörigkeit entdeckt Weidermann im Rückblick den geheimen roten Faden im Werk des Literaturnobelpreisträgers.

Polnische Herkunft

Gemeinsam war den beiden aber die polnische Herkunft. Und beide fanden im Nachkriegsdeutschland in der Gruppe 47 eine Wahlheimat. Nur dass Reich-Ranicki nachträglich erfahren musste, dass viele Autoren der Gruppe, darunter etliche ehemalige Wehrmachtsangehörige, ihn, den Juden aus Polen, als störenden Fremdkörper empfanden.

Dagegen zählte gerade Günter Grass zu den wenigen, die sich tatsächlich für Reich-Ranickis Holocausterfahrungen interessierten; er hat sie sogar in seinem Roman Aus dem Tagebuch einer Schnecke nacherzählt.

Schon in seinen früheren Büchern verstand es Volker Weidermann, Literaturgeschichte lebendig zu machen. Wirklich Neues erfährt man bei ihm freilich selten, und eben das trifft auch auf das neue Werk zu. Mehr als seine früheren Bücher leidet Das Duell aber an Weidermanns Verzicht auf Reflexion und Analyse.

Gern hätte man zum Beispiel mehr über das zu allen Zeiten heikle Verhältnis von Literatur und Kritik erfahren, über die Haltbarkeit von literarischen Urteilen etwa oder über den Einfluss des Fernsehens auf die Debattenkultur. Zumal von Reich-Ranickis Nachfolger beim Literarischen Quartett, der Weidermann bis vor kurzem selbst ja war. (Oliver Pfohlmann, 10.11.2019)