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"Heute weiß ich, dass sich Teile der Elterngeneration so schwer mit dem Reden tun, weil es nach dem Ende der DDR keinen öffentlichen Raum gab, wo die Geschichten derer erzählt werden durften, die fest an den Sozialismus geglaubt haben", sagt Johannes Nichelmann.

Foto: Reuters / Annegret Hilse

STANDARD: Sie wurden im Mai 1989 geboren und haben die DDR nicht bewusst erlebt. Kann ein Land, das man nie kennengelernt hat und das nicht mehr existiert, einen Menschen prägen?

Johannes Nichelmann: Es kann eine Gesellschaft prägen, und diese hat sich ja nicht am 3. Oktober 1990 (am Tag der Deutschen Einheit, Anm.) einfach in Luft aufgelöst, sondern besteht in Teilen bis heute. Die Attitüde hat sich nach diesem Tag bei mir weder in der Familie noch in der Schule komplett geändert.

STANDARD: Wann kam Ihnen der Begriff DDR erstmals unter?

Nichelmann: Recht früh. Ich wuchs in Berlin-Pankow auf und hörte immer wieder, was es "damals zu DDR-Zeiten" alles gegeben hat oder was passiert war. Wir sprachen auch von der Kaufhalle, nicht vom Supermarkt. Und im Konsum um die Ecke lebte die DDR sowieso lange weiter. Die Verkäuferinnen hatten die typischen DDR-Kittelschürzen an und waren ewig schlechtgelaunt.

STANDARD: War Politik bei Ihnen in der Familie zu Hause Thema?

Nichelmann: Nicht die Politik der DDR. Aber mir war schon klar, dass es dieses Land nicht mehr gibt. Meine Ossi-Werdung fand dann aber erst in Bayern statt. Dorthin, in die Nähe von Augsburg, zog ich mit meiner Mutter und meinem Bruder, als ich zwölf Jahre alt war. Ich hatte keine Lust, mich zu assimilieren, und wurde zum Ossi, um mich abzugrenzen. Ich fing an, die DDR-Gesellschaft zu verteidigen, ohne zu wissen, was ich da eigentlich verteidige.

STANDARD: Was erzählten Sie?

Nichelmann: Dass nicht alles so furchtbar war, dass es auch Farblandschaften gab und nicht nur Schwarz-Weiß-Bilder. Und dass meine Eltern nicht in der Stasi waren, sondern ein normales Leben führten – was ja auch stimmt. Ich agierte, wie Soziologen es bei Kindern türkischer Eltern in Deutschland beobachten. Das Land der Familie wird verteidigt, obwohl man es kaum kennt.

STANDARD: Stießen Sie auf Vorurteile?

Nichelmann: Jede Menge. Ossis wurden als dumm abgestempelt. Manche verbanden damit sächselnde Menschen, die sich über Bananen freuten. Wenn die Kinder zu Hause erzählten, dass ich aus dem Osten sei, zogen die Eltern die Augenbrauen hoch. Ich hingegen staunte, dass die Mütter fast alle zu Hause blieben – und über die üppigen Brotzeiten jeden Tag. Meine Mutter war berufstätig, solche Dinge kannte ich nur vom Sonntag.

STANDARD: Hatten Sie damals Sehnsucht nach dem Land, das es nicht mehr gab?

Nichelmann: Nein, es gab keine ostalgischen Momente. Aber ich trug eine Trainingsjacke mit der Aufschrift "Berlin". Sauhässlich war das Ding, aber wichtig für mich.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie schwierig es war, mit Ihren Eltern über die DDR ins Gespräch zu kommen. Wie lief das ab?

Nichelmann: Als ich sieben war, fand ich mit meinem Bruder im Keller die Uniform der Nationalen Volksarmee meines Vaters. Mein Vater ist ausgerastet. Er war bei den Grenzsoldaten gewesen und wollte nicht an die Zeit erinnert werden. Das hätte Fragen auslösen können.

STANDARD: Dann war das Thema erledigt?

Nichelmann: Für längere Zeit – ja. Aber 2009 wollte ich in der Schule eine Facharbeit über die DDR-Grenzsoldaten schreiben. Ich habe meinem Vater bei einer Autofahrt davon erzählt. Er ist wieder komplett ausgerastet und drohte, mich zu enterben. Dann schrieb ich eben über Bert Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches, nicht über die Grenzsoldaten.

STANDARD: Was war so belastend an einem Gespräch über die Vergangenheit?

Nichelmann: Ich konnte das Thema DDR nicht ansprechen, weil es wehtat. Heute weiß ich, dass sich Teile der Elterngeneration so schwer mit dem Reden tun, weil es nach dem Ende der DDR keinen öffentlichen Raum gab, wo die Geschichten derer erzählt werden durften, die fest an den Sozialismus geglaubt haben. Wenngleich es natürlich richtig und wichtig ist, dass die Geschichten der Opfer der SED-Diktatur im Mittelpunkt des Erinnerns stehen.

Johannes Nichelmann: "Ich konnte das Thema DDR nicht ansprechen, weil es wehtat."

STANDARD: Dann kam die Idee mit dem Buch, und es klappte doch?

Nichelmann: Irgendwann habe ich gesagt, ich schreibe jetzt ein Buch. Da war mein Vater zu einem Gespräch bereit. Doch das erste Treffen dazu war eine Katastrophe. Er hat sich überfallen gefühlt oder noch schlimmer eigentlich: wie am Seziertisch. Schon meine erste Frage – was war die DDR – war ihm zu viel.

STANDARD: Wie lautete seine Antwort?

Nichelmann: Was soll das? Und: Die DDR ist das Land, in dem ich aufgewachsen bin und das dann weg war.

STANDARD: Was quälte ihn bei dem Gespräch?

Nichelmann: Er hatte Angst, nicht offen darüber reden zu können, aus Furcht, verurteilt zu werden. Ich habe sein Mitmachen und seinen Klassenstandpunkt hinterfragt. Es hat ihn ja keiner in die SED gedrängt, er ist sehr jung freiwillig eingetreten. Er sagte mir, ihm habe das Statut der Partei gefallen, dass die Partei das Land aufbauen werde. Da wollte er dabei sein.

STANDARD: Was sagten Sie?

Nichelmann: Ob ihm nicht aufgefallen sei, dass es die 35 Jahre vorher auch nicht klappt habe. Und dass abgehobene SED-Bonzen eben abgehobene SED-Bonzen waren.

STANDARD: Ist sein früheres Verhalten aus heutiger Sicht für Sie nachvollziehbar?

Nichelmann: Ich kann mir in meiner Position nicht herausnehmen, zu urteilen, weil ich Gott sei Dank nie in einer Diktatur Entscheidungen treffen musste. Aber ich bin froh, dass wir geredet haben. Dieses jahrelange Schweigen hat ja auch mit mir etwas gemacht.

STANDARD: Wie ging es Ihnen?

Nichelmann: Mein Vater war drei Jahre lang bei den Grenzsoldaten und hat sich dort die Beine in den Bauch gestanden. Aber ich habe mir ausgemalt, er hat Schreckliches getan. Diese Art Kopfkino trug ich jahrelang mit mir herum. Er hat niemanden erschossen. Ich glaube, es wäre gut gewesen, ein Klima zu schaffen, in dem sich Menschen mit solchen Biografien trauen können, offen zu reden und zu reflektieren.

STANDARD: Aber dass man sich für die Unterdrückung in einer Diktatur interessierte und das aufarbeiten wollte, ist doch verständlich.

Nichelmann: Klar, man muss den Horror erzählen. Aber ab einem gewissen Zeitpunkt hätte man auch die Mitläufer zu Wort kommen lassen müssen. Wenn wir das System verstehen wollen, müssen wir auch diese Perspektiven zulassen.

STANDARD: Was raten Sie Nachwendekindern? Dass sie ihre Eltern mehr nach der DDR fragen?

Nichelmann: Auf jeden Fall. Ich bekomme unglaublich viele Zuschriften, und mir wird immer wieder berichtet, dass es sehr viel Kraft kostet. Aber auch, dass es viele Eltern gibt, die sich wünschen, dass jetzt alle Fragen auf den Tisch kommen. Wir müssen das Schweigen brechen.

STANDARD: Viele erfahren dabei allerdings nichts Angenehmes.

Nichelmann: Ja, ich beschreibe in meinem Buch Lukas, der an seinem Vater verzweifelt, weil der bei der Stasi war. Lukas ist schwul und hielt seinen Vater, der zu DDR-Zeiten in der Künstlerszene im Berliner Prenzlauer Berg unterwegs war, immer für recht cool. Nun hat er erfahren, dass sein Vater dort Homosexuelle ausgespitzelt hat. Das ist für Lukas so schrecklich, dass er nun darüber schweigt. Also geht das Schweigen in die nächste Generation über.

STANDARD: Nach all Ihren Gesprächen und Recherchen: Würden Sie die DDR heute noch gerne kennenlernen?

Nichelmann: Die DDR ist weg, und das ist gut so. Ich habe überhaupt keine Sehnsucht danach. Ich brauche auch keine Devotionalien und spüre keinerlei Ostalgie in mir. Max, den ich im Buch beschreibe, fährt einen Trabi, der ist für ihn wie eine Zeitmaschine. Das Auto riecht nach Plaste, er braucht das, um ein Gefühl für das Land zu bekommen. Aber da ist jeder anders. Ich wünsche mir generell sehr viel mehr Differenzierung.

STANDARD: Inwiefern?

Nichelmann: Nicht alle Ostdeutschen waren und sind gleich. Wenn es heißt, "der Osten wählt rechts", dann schert man fälschlicherweise alle über einen Kamm. Und überhaupt: "die Ostdeutschen". Zwischen Rügen und dem Thüringer Wald ist viel Platz. Außerdem: Probleme in Ostdeutschland sollten wir als gesamtdeutsche Probleme behandeln – nur so lassen sie sich am Ehesten lösen. (Birgit Baumann, 9.11.2019)