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Emmanuel Macron tritt in der EU zunehmend allein auf – dabei hatte er sich 2017 noch als großer Europäer gegeben. Auch in Paris klaffen Hoffnungen und Realität auseinander.

Foto: AP / Virginia Mayo

Nur Beethovens Europahymne war großartig genug, um an jenem 7. Mai 2017 den Triumphzug des frischgewählten Präsidenten durch den Louvre-Hof zu untermalen – damals, als Emmanuel Macron gerade mit einem fulminanten Sieg die französische Präsidentschaft gewonnen hatte. Im Herbst danach hielt er in der Universität Sorbonne ein noch leidenschaftliches Plädoyer für Europa. Der lauteste Beifall kam aus Berlin, wo nach der Wahlniederlage der Rechtspopulistin Marine Le Pen hörbares Aufatmen geherrscht hatte. Und wo der 39-Jährige nun als "neuer europäischer Visionär" gefeiert wurde.

Heute klingt es ganz anders über den Rhein hinweg. Macron sei ein "unbequemer Partner", ist noch eine höfliche Kritik. "Der Sonnenkönig ist nackt", meint ein deutsches Leitmedium; ein anderes schilt den Präsidenten, er verfechte "engstirnig nationale Interessen". So etwa, wenn er kaum verhehlt, dass er die Briten schnell aus der EU haben will. Vehement stemmte er sich in Brüssel gegen einen neuen Aufschub. Erst als er merkte, dass er allein dastand, akzeptierte er ihn doch noch.

Auch in der Westbalkanfrage stellte sich Macron von Beginn an quer: Einer EU-Erweiterung um Albanien und Nordmazedonien erteilte er eine schroffe Absage, noch bevor er sich mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel abgesprochen hatte. Ohne Rücksprache deklarierte er diese Woche auch den "Hirntod" der Nato. Darauf reagierte nun Merkel: "Der französische Präsident hat drastische Worte gewählt, das ist nicht meine Sicht."

Zwei Geschwindigkeiten

An sich hat Macron durchaus Argumente: Dass die Balkan-Erweiterung das Gefälle innerhalb der EU nur noch vertiefen könnte, ist kaum zu bestreiten. Ähnlich die Idee eines Eurozonen-Budgets, das die fehlende Kohäsion der am Euro beteiligten Volkswirtschaften beheben könnte.

In Berlin aber beißt der Franzose damit seit 2017 auf Granit. Der deutsche Vorwurf, Macron handle selbstherrlich, ist auch deshalb zu relativieren: Der Eindruck von Solotouren entsteht nicht zuletzt, weil Merkel dem Schritttempo ihres Partners nicht folgt.

Fazit: Macron stellt oft die richtigen Fragen, aber er wartet gar nicht erst auf die Antworten. Und wenn sie dann kommen und negativ ausfallen, reagiert er sehr gereizt. Nach der Rückweisung seiner Kandidatin Sylvie Goulard durch das EU-Parlament schmollte er dann wie ein Schulbub.

Französische Staatschefs hatten seit François Mitterrand schon immer die Tendenz, das Pariser Präsidialsystem auf die EU-Abläufe zu übertragen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Macron, brillanter Absolvent der Eliteverwaltungsschule Ena, scheint die Gewichtsverlagerung bis heute nicht realisiert zu haben: Die Zeiten, als die Staats- und Regierungschefs im Hinterzimmer Strategie- und Personalentscheidungen fällten, sind vorbei.

Macrons Charmeoffensive vor einem Jahr im deutschen Bundestag ("Frankreich liebt Sie") entpuppt sich mehr und mehr als pure Inszenierung, sein Schlagwort von der EU-"Renaissance" klingt wenig glaubhaft. Aus dem Einiger ist ein Einzelkämpfer geworden, aus dem Visionär in mancher Hinsicht ein Verhinderer.

"Emmanuel der Herrliche"

All das kennen die Franzosen von Emmanuel dem Herrlichen, wie der Chronist Patrick Rambeau eine bissige Persiflage über die erste Halbzeit des Staatschefs nennt: die grandiosen Auftritte, die von Choreografen aufgezogen werden; die puerilen Wutanfälle, die eiskalten Zurechtweisungen biederer Bürger. Und die großen Worte, etwa von der Révolution, wie sein Wahlkampfbuch hieß.

Dabei benimmt sich der Präsident oft selbst wie ein Vertreter des Ancien Régime, jener alten Welt, die er als überholt anprangert. Aber was will Macron wirklich? "Der Macronismus wird ein opportunistischer Zentrismus", meint das konservative Magazin "Le Point". Denkt in ihm ein "Neoliberaler", wie das linke Portal Mediapart glaubt – oder ein "Linksliberaler", wie die Republikanerin Valérie Pécresse vermutet?

Vielleicht hat Frankreich einfach einen Technokraten ins Elysée gewählt. Der hat zwar keine Revolution ausgerufen, aber doch etliche Reformen durchgezogen. 2018 modernisierte er das Arbeitsrecht, momentan folgt die Arbeitslosenversicherung. Seither finden mehr Lehrlinge einen Job, die Arbeitslosigkeit ist auf 8,5 Prozent und damit auf ihren tiefsten Stand seit 2008 gesunken. Geglückt ist auch der Versuch, seine nächsten politischen Gegner zu eliminieren: Die Sozialisten und die gaullistischen Republikaner sind nur noch Schatten jener Großparteien, die das Leben der Fünften Republik seit 1958 bestimmt hatten.

Diese wirtschaftlichen und politischen Erfolge sind aber trügerisch wie eine verdeckte Fallgrube. In Wahrheit ist Macron so geschwächt wie noch nie. Den Frieden nach Monaten heftigster Gelbwesten-Proteste musste er mit Milliardengeschenken erkaufen, die seinen Reform-Elan zum Erliegen gebracht haben. Und dabei steht der schwerste Brocken erst noch bevor: die Rentenreform, die Mutter aller Reformen.

Macron, der Zauderer

Der Clash ist programmiert, und Macron beginnt zu zaudern. Seine Berater warnen: Außerhalb des Parlaments, wo er die absolute Mehrheit kontrolliert, braut sich etwas zusammen. Der Grüne Yannick Jadot, eigentlicher Sieger der französischen Europawahlen im Mai, wirft Macron vor, er habe die Sturmstimmung selber geschaffen. "Emmanuel Macron bläst nicht nur in die Glut, er legt Feuer an unsere Gesellschaft." Er stürze, so Jadot, das Land in die Austerität und Prekarität.

Und er fordert gezielt ein neues Duell mit Marine Le Pen 2022, im Glauben, er könne es gewinnen. Sie aber profitiert derzeit vom Unmut. In einer neuen Umfrage erhält Le Pen heute bereits 45 Prozent der Stimmen gegen Macron. Auch wenn diese Halbzeit-Umfrage viel zu früh erfolgt, um Aussagekraft zu haben, bestätigt sie die aktuelle Stimmungslage. In Frankreich gärt es. Die angespannte Nation scheint gegen Populismus nicht mehr gefeit. (Stefan Brändle aus Paris, 9.11.2019)