Es ist ein zu warmer Novembertag. Ich stehe in einem Praxisraum und bedanke mich bei meiner Sturheit, dass ich jetzt hier bin und mich fürchte. Denn ich werde gleich mit fremden Menschen kämpfen. Schuld ist der eine Freund, der kürzlich meinte, ich wäre unnahbar. "Umarmungen zum Beispiel. Du machst das nicht. Nie! Sogar beim Paten umarmen sie sich, bevor sie einander die Kugeln durch den Kopf jagen. Du nicht. Du sagst Hallo und machst einen Witz."

Ich wies das empört zurück und machte einen Witz. Die Diskussion endete mit der Wette darüber, ob ich mich traute, bei einem Playfight mitzumachen. Da wird mit Unbekannten spielerisch gerauft, wie früher auf dem Schulhof, jetzt als Verhaltenstraining für Erwachsene. Mein Albtraum. Aber es ging um Wein als Wetteinsatz, also stellte ich mich der Herausforderung.

Lass uns happyraufen

Jetzt stehe ich da. Ich denke über einen Begrüßungswitz nach, da kommt schon eine Frau in meinem Alter auf mich zu. "Willkommen!", sagt sie und umarmt mich. Mir stellt es die Nackenhaare auf. Mein Freund hat recht. Ich mag das nicht so.

"Ich bin Sabrina." "Heidi." "Heidi, na schau." Sie schickt mich in den Nebenraum, damit ich mich umziehe. Dort unterhalten sich ein paar Männer und Frauen, alle schon in Leggings und T-Shirts. Keiner würdigt mich eines Blickes. Sehr gut. Dann werden wir von Sabrina in einen Kreis gesetzt, und sie erklärt, was passieren wird. Sie erzählt von Skin-Hunger, dem Mangelzustand an Körpernähe. Wenn wir zu wenig Berührung erfahren, dann verkümmern wir, seelisch, geistig, körperlich. Wir erfahren von Forschern, die sagen, dass neurobiologisch die Post abgeht, alleine bei feiner Berührung. Durch die vielen Tastrezeptoren in der Haut und im Bindegewebe wird allerhand an Impulsen in verschiedene Regionen des Gehirns gesendet. Das kommt so in einen ganz anderen Aktivierungszustand. Wir sind jetzt also hier, um uns happyzuraufen. Zwei Stunden sind dafür anberaumt, für 20 Euro. Ein Schnäppchen für das Seelenheil.

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Foto: Getty Images/ Fotograf: Sara Monika

Wir beginnen mit ein paar Atemübungen, um uns aufzuwärmen. Nennen unsere Namen. Sabrina erspart es uns, ausführen, warum genau wir hier sind. Ich blicke in die Runde. Es sind ganz normale Menschen. Einige jünger als ich. Ein sehr attraktiver Mann ist dabei. Ich schaue schnell weg. Eine Frau über 60 sitzt mir gegenüber und strahlt. Sie freut sich offenbar schon mächtig darauf, was jetzt kommt.

Ich spüre Gänsehaut auf dem Kopf bei der Vorstellung, dass mich gleich fremde Leute anschnaufen und vermöbeln. Was ist das nur mit mir und dem Meine-Grenzen-Ausloten? So wie damals, mit meiner Höhenangst. Um sie zu bekämpfen, bin ich in ein Flugzeug gestiegen und habe so lange verkrampft und mit Würgereiz auf den Boden geblickt, bis ich es sehr hoch oben mit einem Fallschirm verlassen konnte. Ich war begeistert. Der freie Fall – dieses unglaubliche Gefühl der Freiheit. Ich genoss den Rundumblick auf diese absurde Landkarte, die immer näher kam. Der Fallschirmsprunglehrer zog dann irgendwann die Leine, und wir gondelten langsam hinunter. Ich war verliebt in meinen Mut. Bevor ich mich endgültig abfeiern konnte, bekam ich eine Panikattacke. Was war passiert? Wir waren in Baumhöhe. Mein Gehirn hat eine echte Relation zur Höhe erfasst und war der Meinung, dass das so nicht ging. Diese letzten zwanzig Sekunden vor dem Boden waren die längsten meines Lebens. Selbstverständlich steige ich bis heute in kein Blumenrad ein ... Ich bin ja nicht blöd.

Erste Zweifel

Ich bin gerade dabei, mir das mit dem Raufen anders zu überlegen, da teilt mich Sabrina mit wohl dem richtigen Riecher für die Person mit den größten Hemmungen ein, zu beginnen. Ein Student ist mein Partner, gottlob nicht mein Typ. Wir sitzen uns gegenüber auf den Matten. Spielregeln gibt es keine, außer dass wir am Boden bleiben müssen. Beißen ist auch nicht okay. Es ist sehr still, alle glotzen. Ein schwules Pärchen sitzt in meiner Nähe. "Schnapp ihn dir, Süße", kreischt einer. Alle lachen. Der Student kommt auf den Knien auf mich zugekrabbelt und sagt: "Ich bin Martin." Ich würde ihm gerne eine knallen. Das ist aber auch nicht erlaubt. Einfach so eine Watschen. Ich spüre, ich bin noch sehr weit entfernt davon, ein Bindungshormon auszuschütten.

Und dann umarmt mich Martin. Blitzschnell. Sehr intensiv und eng. Ich hänge in seinen Armen und weiß nicht genau, wie jetzt tun. Ich habe Angst, dass meine Arme zu flattern anfangen, wie bei einer Gans. Martin legt mich auf die Seite, verdreht mir den Arm. Nimmt ein Bein, und schiebt es mir fast bis über den Kopf. Ein Raunen geht durch die Leute. Auf meine Dehnbarkeit bin ich übrigens sehr stolz. Sind aber vermutlich einfach zu lange Sehnen. Dann dreht er mich blitzschnell um, und ich liege auf dem Bauch. Martin sitzt auf meinem Hintern. Ich schnaube vor Zorn.

Und dann geht's los. Wir kämpfen. Ich schaffe es, mich zu befreien, und attackiere ihn von hinten. Wir wälzen uns über die Matten, mähen dabei fast ein paar Zuseher nieder. Ich werde immer wütender, aber Martin blickt mich freundlich an, während er mir den Arm verdreht. Ich schwitze. Irgendwann muss ich lachen. Ich werde weich, gebe auf. Lasse mich herumwerfen und verbiegen. Irgendwann merke ich, dass ich Martin zwischendurch auch "besiege", ohne mich besonders anstrengen zu müssen. Wir haben unseren Tanz gefunden.

Baumgrenze Mann

Sabrina stoppt uns. "Gut gemacht. Na schau." Wir lassen voneinander ab. Ich schaue kurz zu Martin hinüber. Ich spüre in mich hinein, ob ich jetzt aufmerksamkeitsverliebt bin. Das passiert mir schon manchmal. Nein, er ist mir echt zu jung. Gut. Die nächsten kommen dran, das schwule Pärchen teilt sich auf und nimmt sich neue Partner. Bis zu fünf Paare kämpfen gleichzeitig, hie und da gibt es auch Dreierkonstellationen. Der Raum dampft, es wird geräuschintensiv. Manchmal unterbricht Sabrina und beteiligt sich am Geschehen. Die Frau über 60 kämpft mit Martin. Er hat keine Chance gegen ihre Begeisterung. Ich werde von einer jungen Frau angefallen. Mir wird alles gleichgültig. Beginne meinerseits, auf die Leute zuzukriechen. Ein Glücksgefühl macht sich in mir breit. Ich habe es geschafft, also ich kann jetzt fremde Menschen berühren, ohne dass sich mein Magen mit Blei füllt. Vermutlich werde ich auch bald erleuchtet sein oder so etwas, das geht dann ja flott, wenn einmal der Knopf aufgegangen ist.

Plötzlich sitzt er vor mir und fordert mich auf. Der eine sehr attraktive Mann. Er riecht fantastisch. Ich erstarre. Er versucht mich auf die Seite zu biegen. Ich winde mich heraus und entschuldige mich. Muss auf die Toilette, komme gleich. Er schaut mich verwundert an und nähert sich der nächsten Person. Ich bin traurig. Der ist wohl meine Baumgrenze. Der ist mir nicht egal. Da bricht Sabrina die Session ab. Sie bedankt sich bei uns und lobt uns für unsere Fortschritte. Im nächsten Monat gibt es wieder einen Workshop, da kann man das alles vertiefen. Sie blickt mir in die Augen. "Na schau", fügt sie hinzu.

Geknickt gehe ich nach Hause. Ich hätte so schön den Attraktiven hauen können. So einfach wäre das gewesen. Ich überlege, wie viel Arbeit es wohl noch sein wird, bis ich mit jemandem raufe, der mir gefällt. Ich rufe den Freund an wegen der Wette und belüge ihn. Erfolg auf allen Linien und so. Ich will den Wein. Zu Hause abonniere ich auf Facebook "Die Pfotenretter". Einen Hund zu haben wäre eigentlich wieder schön. (Heidi List, 9.11.2019)