Risse im Alltag: Eine Familie wird durch den Tod des Vaters um ihre Routinen gebracht.

Stadtkino

Eine Frau klettert in der Nacht über eine Friedhofsmauer. Die Kamera findet sie wieder, als sie vor einem Grab zu Boden sinkt, die Hand ausgestreckt. Da hüpft eine Wachtel herbei, pickt ein wenig an ihr herum. "Let’s sway / Under the moonlight", haucht M. Ward in seiner Coverversion von David Bowies Let’s Dance schwermütig ins Mi krofon. Dann sieht man dieselbe Frau, Astrid (Maren Eggert), mit ihren beiden Kindern im Krankenhaus vor einem Bett tanzen.

Eine Erinnerung, ein Traum? Man weiß es nicht genau, doch die Szene gehört zu den betörendsten dieses Kinojahres. Die Absicherung des Heims, des Stammplatzes der Familie, war im klassischen amerikanischen Kino lange eine erzählerische Konstante. Ordnungen werden infrage gestellt, um am Ende wieder neu bestätigt zu werden. Anders verhält es sich im Kino von Angela Schanelec, deren jüngster Film sein Zögern schon im Titel ausdrückt: Ich war zuhause, aber … (eine Variation auf einen frühen Film des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu, Ich wurde geboren, aber …). Bei der deutschen Filmemacherin, der gerade eine Monografie der Viennale gewidmet war, geht es um das Dasein nach einem schweren Verlust.

Der veränderte Blick

Wie lebt man als alleinerziehende Frau mit zwei Kindern weiter? Mit einer Lücke, die dem Alltag neue Schwerkräfte verleiht? Schanelec erzählt von einem veränderten Blick, von widerstreitenden Gefühlslagen und von Wünschen, die sich mit der Realität nicht vereinbaren lassen. Eine Familie ist durch den Tod des Vaters um ihre Routinen gebracht.

Das kann, wie in jener fulminanten Szene, in der Astrid einen Regisseur (Dane Komljen) mit ihrer Skepsis ge genüber seinem Theaterbegriff konfrontiert, auch in das Selbst verständnis des Films führen.

Er würde das Falsche und das Wahre, Schauspiel und "echte" Darsteller auf ungebührliche Weise vermischen, sagt sie zu ihm in einem Redeschwall, dabei sei es schon schwierig genug, sich überhaupt mit Sprache verständlich zu machen.

Tiere in der Wildbahn

In einer späteren Szene drängt sich diese Frage wie ein Echo wieder zurück in den Kopf. Ein Lehrer von Astrids Sohn (Franz Rogowski) verlangt seiner Freundin ein Bekenntnis zu ihrer Liebe ab. Sie drückt sich um eine klare Aussage herum und meint dann, es gebe wohl eine andere Bestimmung für sie, als ein Kind zu bekommen – einen Ruf zur Einsamkeit. Es sind solche Grauzonen zwischen Notwendigkeit und Zufall, in denen sich die Figuren von Angela Schanelecs Filmen auf halten und nach Antworten suchen. Sie kennen das Gefühl, dass nichts eindeutig zu beantworten ist, nur zu gut.

Ich war zuhause, aber … beginnt mit einer Szene mit Tieren in der Wildbahn. Ein Hund jagt einen Hasen, im Stall kommt ein Esel hinzu, der Hund kaut an seiner Beute. Wie man dieses Geschehen zu dem daran anschließenden Leben der Großstadtmenschen in Beziehung setzen soll, bleibt offen; auf jeden Fall ist es auch das Bild einer fragilen Einheit.

Arbeit mit Fragmenten

Immer wieder sieht man die Kinder in der Schule eine Hamlet-Adaption proben, doch sie sprechen die Texte ohne Emphase, nüchtern und reduziert. Schanelec arbeitet seit jeher mit Fragmenten, die man als Zuschauer in ein Verhältnis bringt, ohne dass sich alles irgendwie geschmeidig in einanderfügt. Die an den französischen Filmemacher Robert Bresson erinnernde Genauigkeit in der Bildauflösung, die Montage, in der oft der Gegenschuss verweigert wird, hebt auch das Unsichtbare hervor.

Kontrolliert, aber sinnlich

Schön an Schanelecs Kino ist, wie es bei aller Kontrolliertheit sinnlich bleibt, ein Gefühl für die Ruhe, für verfließende Momente behält. Und dass es das Profane nicht scheut: Ganz im Gegenteil ist es oft erst das Alltägliche, das dem Mysterium Raum gewährt. Ein Fahrrad wird gebraucht, der Anbieter spricht mit einem elek tronischen Stimmverstärker. Das Fahrrad muss wieder zurückge geben werden.

Was banal klingt, übersetzt auch das Gefühl einer Überforderung. Und wenn das Fass überläuft, ist es so schnell nicht wieder zu bändigen. Eine Kleinigkeit bringt Astrid zu Hause bei den Kindern zur Raserei. Die Kinder wollen sie mit Umarmungen besänftigen. Doch Schanelec zieht die Szene weiter und weiter und weiter, denn sie hat ein ungemeines Verständnis dafür, wie man einen Zusammenhang in einer Geste verdichten kann. Doch es braucht keine Ausrufezeichen. (Dominik Kamalzadeh,8.11.,2019)