Die Lust auf Wollust wird mit den Jahren nicht geringer: Christine Gaigg (Mitte) bedenkt im Wiener Tanzquartier sprachlich wie tänzerisch die Fallstricke der Liebesanbahnung.

Foto: eSeL.at - Lorenz Seidler

Diese Frage klingt sportlich: "Muss man gut vögeln können, wenn man gut tanzen kann?" Wer sich darüber den Kopf zerbrechen möchte, hat jetzt im Tanzquartier Wien bei Christine Gaiggs neuem Stück Affair reichlich Gelegenheit dazu. Eine Sache, die uns alle angeht, denn, wie die Wiener Choreografin weiß, "richtig vögeln ist immer noch das Beste".

Affair ist als "Performanceessay" gemeint, daher wird darin keine Sekunde lang getanzt, sondern durchgängig geschauspielert und gesprochen. Zwei Männer, Robert Steijn und Frank Willens, und zwei Frauen, Juliane Werner und Gaigg selbst, streichen durch das auf drei kleine Tribünen platzierte Publikum. Sie reden über nichts anderes als über das eine – und natürlich darüber, wie dieses erstens möglichst oft zustande kommt, was zweitens davor respektive danach passieren kann und wer drittens dabei so alles leistet, zum Beispiel: "Peter kann endlos vögeln."

Höhepunkte der Wollust

Trotzdem oder gerade deswegen kommt es – die Texte stammen von der Choreografin selbst – zu etlichen Höhepunkten wie etwa: "Gestern hatte ich eine Wollustorgie, die nichts zu wünschen übrigließ." Der Einsatz des nur noch selten gebrauchten Begriffs Wollust verleiht Gaiggs flockiger Sprache eine gewisse Distanz zur Gegenwart, was genau ins Herz der Ambitionen hinter Affair zielt.

Diese Arbeit ist der dritte Teil einer Performancetrilogie, die 2014 mit dem Stück Maybe the way you made love twenty years ago is the answer? begonnen hat. Die Trilogie thematisiert den Wandel des Sex von seiner gesellschaftlichen Befreiung nach den Sixties bis zu seiner ökonomischen Liberalisierung nach den 1980er-Jahren. War's früher echt besser, oder war man einfach jünger und attraktiver?

Gaigg (59) spielt damit, das Intimste öffentlich zu machen, ihm eine vor allem sprachliche Form zu verleihen. Wobei sie vor Peinlichkeiten nicht zurückschreckt. Gerade deren Aufklärungswert sollte nicht unterschätzt werden, denn wer hätte nicht ab und zu Lust auf "eine Affäre mit einem Superliebhaber". Und wer möchte nicht ein bisschen overfucked sein zum Beispiel von Peter, Marc, Adam oder Fadel?

"Ich bin ein Milchmädchen"

Gaigg mit Robert Steijn beim Küssen (im Vgr. Frank Willens).
Foto: eSeL.at - Lorenz Seidler

In Affair werden dem Publikum anregende Berührungen und Umarmungen zuteil, ebenso ein paar geraunte Worte. Eine Frau darf Robert Steijn sogar die Socken ausziehen, einer anderen werden von Frank Willens die Zehen gelutscht. Steijn präsentiert mitten im Stück die finale Rechnung: "Ich bin ein Milchmädchen." Denn das gute Stück geht nicht auf.

Einerseits, weil seine Darsteller, bis auf die weit überlegene Juliane Werner, sich immer wieder in ihren Texten verhaspeln. Aber auch, weil zwischen der flockigen Sprache und der verklemmten Performance ein unüberwindlicher Abgrund klafft – ganz so, wie es schon bei Maybe the way you made love twenty years ago is the answer? der Fall war. Wer sich also ein bisschen von eigenen sexuellen Wünschen und etwas höheren künstlerischen Ansprüchen entfernen will, sollte Affair nicht versäumen. (Helmut Ploebst, 9.11.2019)