Das Gefühl, in einem Raumanzug zu stecken, begleitet Caroline ihr Leben lang: eng, schwer, stickig und ohne Bodenhaftung. Eine Herzkrankheit sorgt für diesen Zustand, in dem es sich nur schwer atmen lässt und sich alles anfühlt wie Watte mit Bleikugeln. Sie entschließt sich zu einer Operation, die gelingt, und weil Gewohnheiten sich nur schwer ablegen lassen, beginnt Carolines Martyrium jetzt erst richtig. Denn das Leben als Gesunde ist ihr fremd, daran muss sie sich erst gewöhnen.

Elisabeth Scharangs Film Herzjagen ist nach Motiven von Julya Rabinowichs Roman Herznovelle ein forderndes Porträt und hat am Mittwoch um 20.15 Uhr ORF-Premiere. Martina Gedeck spielt die um ihre Identität ringende Frau gewohnt intensiv und verzichtet darauf, Sympathie zu heischen. Auf die Rolle hat sie sich gründlich vorbereitet, sagt Gedeck. Dazu kommen persönliche Erfahrungen. DER STANDARD traf die Schauspielerin in einem Wiener Hotel.

Martina Gedeck spielt in Elisabeth Scharangs Film "Herzjagen" die Hauptrolle.
Foto: ORF/BR/ Lotus Film/Petro Domenigg

STANDARD: Die plötzliche Gesundheit wirft Caroline aus der Bahn. Wie erklären Sie das?

Gedeck: Caroline kommt zurück in ihr Leben und stellt fest, dass es ihr nicht mehr gefällt und dass sie ihren vorherigen Zustand wiederherstellen möchte.

STANDARD: Sie möchte lieber wieder krank sein?

Gedeck: Ich wusste das nicht, aber es ist tatsächlich bei einer nicht allzu niedrigen Prozentzahl von Operierten der Fall, dass sie extreme Probleme haben, mit dem neuen Gesundheitszustand zurechtzukommen.

STANDARD: Caroline sucht nach einem selbstbestimmten Leben, indem sie sich ihrer Umwelt, auch ihrem Ehemann, entzieht.

Gedeck: Sie geht ihrem Empfinden nach, was sie wahrscheinlich vorher nicht tat – aus Angst. Jetzt gibt sie dieser Angst nach. Sie sagt: Ich habe Angst, und ich funktioniere nicht. So. Das ist für sie und die Mitmenschen ein schwieriger Schritt. Aber das ist etwas sehr Wichtiges und schön zu sehen, wie sie in dieser Krise begleitet wird.

STANDARD: Sie fordern das Publikum. Caroline ist wohlhabend, hat eine schöne Wohnung, einen liebevollen Ehemann, liegt auf Klasse, und danach ist sie sogar gesund. Man fragt sich: Warum stellt sie sich so an?

Gedeck: Das wird so sein. Der Zuschauer ist aufseiten der Nebenfiguren, und die Hauptfigur steht allein da. Alle wollen mit ihr Mitleid haben, und sie schottet sich ab. Deswegen hat es die Caroline wahrscheinlich auch beim Zuschauer so schwer. Sie ist nicht in der Lage, sich gut verständlich zu machen.

STANDARD: Caroline hatte es schwer. Wie schwer hatten Sie es mit Caroline?

Gedeck: Ich hatte es sehr leicht mit Elisabeth Scharang und dem Team. Wir hatten Zeit, Dingen auf den Grund zu gehen. Ich habe mich in der Arbeit sehr wohlgefühlt, aber in die Gefühle reinzugehen, das war schon ein Akt. Es sind starke Gefühle von Verlassenheit, Angst und Verzweiflung, von Rebellion. Da muss man sich fallenlassen und hat kein Netz.

STANDARD: Fallenlassen ist ein Prozess, der die Gewissheit voraussetzt, dass man letzten Endes gut am Boden aufkommt und nicht aufschlägt. Die Gewissheit haben Sie?

Gedeck: Natürlich, das ist der Erfahrung geschuldet, und ich habe ja schon komplexe Figuren gespielt. Es ist aber immer wieder Neuland, vor allem hier bei ihr, weil sie so verstrickt ist.

STANDARD: Zum Thema Herzkrankheit haben Sie einen persönlichen Bezug. Ihr erster Ehemann, Ulrich Wildgruber, beging Suizid nach langer, schwerer Krankheit. Hat das Thema des Films Sie persönlich betroffen?

Gedeck: Ja, das kann ich schon sagen. Die Versehrtheit ist immer auch eine seelisch-geistige Versehrtheit. Jemand, der herzkrank ist, hat ein anderes Lebensgefühl. Jemand, der nicht weiß, ob die Krankheit ihn nicht umbringt, ist näher am Tod und an den Abgründen dran. Das hat mich im Leben mit Wildgruber schon geprägt. Das war ein ganz extremes und kraftvolles Leben, ich glaube, gerade weil es bei ihm eine Versehrung gab. Darüber haben wir aber nicht nachgedacht, für uns war das normal. Das hat mich damals begleitet und begleitet mich bis heute. Diesen Verlust trägt man in sich, man verarbeitet ihn zwar, aber er geht aus dem System nicht raus.

STANDARD: Das geht nicht raus?

Gedeck: Alles, was ein Mensch erlebt, ist wie eine Schicht, eine Erfahrungsschicht. Alle zusammen sind im seelisch-emotionalen Haushalt gespeichert.

STANDARD: Liegen irgendwann genügend Schichten, sodass die schmerzhaftesten nicht mehr ganz so wehtun?

Gedeck: Doch, natürlich, aber dadurch öffnen sich andere Räume. Ich habe ein anderes Empfinden seitdem und eine andere Wahrnehmung des Lebens. Das macht sich auch in einer solchen Arbeit bemerkbar. Hier ging es sehr darum, dass jemand nicht rauswill in die Welt, sondern sagt, ich möchte ganz klein sein und verschwinden. Ich kenne das sehr gut, auch aus der Zeit nach Ulrichs Tod.

STANDARD: In Ihren Filmen gehen Sie immer wieder an Grenzen. Das setzt ein intensives Bekenntnis zum Leben voraus.

Gedeck: Ja, ich liebe das Leben über alles, und je älter ich werde, umso mehr. Wenn man eine gute Verwurzelung hat, kann man sich auch weit hinauswagen.

Martina Gedeck (58) spielte in Filmen wie "Die Wand", "Der Baader Meinhof Komplex" und "Das Leben der Anderen".

Das ganze Gespräch können Sie im STANDARD-Podcast Serienreif hier hören:

(Doris Priesching, 9.11.2019)