Die Forderungen der Protestanten in Chile werden immer zahlreicher – und zugleich grundsätzlicher.

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Auf der Weltkarte der Proteste blinken zurzeit zahlreiche rote Lämpchen, zuletzt kam Kuwait hinzu: Am Mittwochabend reihte sich das arabische Land am Persischen Golf in die wachsende Liste jener Staaten ein, deren Regierungen mit Sorge auf ihre Bevölkerung blicken, die in großen Scharen und voller Zorn ihre Fäuste zum Protest ballt.

In Kuwait fordern die Menschen vor dem Sitz des Parlaments in Kuwait-Stadt den Rücktritt des Parlamentspräsidenten Marsuk al-Ghanim, nachdem ihm Abgeordnete korruptes Handeln vorwerfen.

Ähnliche Szenen spielen sich im Libanon und im Irak ab. Im Unterschied zum Arabischen Frühling von 2011 entladen auch in anderen Regionen Bürgerinnen und Bürger ihren Frust immer öfter und sichtbarer auf der Straße.

"Erweckungsmoment"

In Südamerika, Europa, Asien und Afrika erheben Demonstrantinnen und Demonstranten lauthals Vorwürfe gegen ihre Regierungen, wollen die von ihnen jahrzehntelang verursachten Missstände nicht mehr länger in Kauf nehmen.

Auch Uno-Generalsekretär António Guterres zeigt sich alarmiert und verlieh seiner Sorge in einem Gespräch mit dem Internationalen Währungsfonds Ausdruck. Der IWF steht oft in der Kritik, seine Kredite an zu strenge Auflagen zu knüpfen und damit die prekäre Situation in einigen Ländern mitverursacht zu haben.

Immer öfter meldet sich Guterres über die bei Protesten ausgeübte Gewalt zu Wort. Zuletzt galt seine "ernsthafte Sorge" dem Irak: Seit Anfang Oktober wurden 280 Menschen bei den Antiregierungsprotesten in der Hauptstadt Bagdad und anderen Städten im Süden von Sicherheitskräften getötet, zehntausende verletzt.

Schon 2008 prägte der US-polnische Politikwissenschafter Zbigniew Brzezinski, Berater von Lyndon B. Johnson und Jimmy Carter, den Begriff eines "globalen politischen Erweckungsmoments". Derzeit erlebte die Welt eine neue Ausformung dessen, beschreibt es Samuel Brannen, Senior Fellow am Center for Strategic and International Studies, in einem aktuellen Beitrag.

Auf noch nie dagewesene Weise fände heute ein globaler Aktivismus statt, der sich gegen politische Eliten und Institutionen richte. Letztere seien daran gescheitert, den Menschen ein Leben in Würde und Hoffnung auf Besserung in Aussicht zu stellen.

Umso vehementer, hält der Politologe und Strategieberater des Washingtoner Thinktanks fest, würden die Menschen nun den Austausch eines Systems einfordern, das sie als überaltert, kaputt und unbelehrbar erlebt haben.

Der Ruf einer Generation

Dass der Zeitgeist so sehr nach Widerstand ruft, hängt auch mit der Demografie zusammen: Viele junge, immer besser ausgebildete Menschen, die mit der Finanzkrise und sie begleitende Demonstrationen aufgewachsen sind, tendieren eher, ihre Wut auf die Straße zu tragen. Für sie gehört das Smartphone ebenso zum Alltag wie der Protest.

Grafik: DER STANDARD

Mögen auch die Tools, mit denen sich die Demonstrantinnen und Demonstranten organisieren, neu sein, so weisen die Aufstände doch Parallelen in die Vergangenheit auf: Die simultan aufbegehrenden Massen etwa in Guinea, Ecuador, Simbabwe oder Pakistan (siehe Grafik) erinnern an die Volksaufstände in Osteuropa gegen das sozialistische System in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren.

Der internationale Charakter ähnelt der Antikriegsbewegung der späten 1960er, die sich von den USA aus über den Globus erstreckte. Parallelen zeigen sich auch mit der Occupy-Wall-Street-Welle: Diese nahm in Nordamerika als Reaktion auf die Finanzkrise 2011 ihren Anfang und setzte sich von Beginn an über Internetaufrufe rasch in anderen Weltteilen fort.

Die politischen und ökonomischen Forderungen fallen je nach Land unterschiedlich aus, weisen aber dennoch einige Gemeinsamkeiten auf: Die wirtschaftliche Lage, allem voran die soziale Ungleichheit, gilt als alles verbindender Antrieb.

Im von Ökonomen oft als "ungleichstes Land der Welt" titulierten Chile etwa lieferte die Erhöhung der U-Bahn-Preise nur den Funken für den ausgewachsenen Flächenbrand. Auf die inzwischen revidierte Teuerung folgte eine nicht abreißende Dauerdemo, in deren Verlauf 20 Menschen starben und mit dem Uno-Klimagipfel und dem Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforum zwei internationale Konferenzen abgesagt wurden.

Die Forderungen in Chile werden immer zahlreicher – und zugleich grundsätzlicher. Die Protestierenden wollen nicht aufhören, ehe das Wirtschaftsmodell und die Verfassung einer fundamentalen Reform unterzogen werden.

Auf und Ab der Protestwelle

Punktuelle Zugeständnisse reichen auch abseits von Chile nicht mehr aus. Selbst Rücktritte führen nicht automatisch zu Befriedung. Der Abgang des libanesischen Premierministers Saad Hariri bremste die Proteste im Zedernstaat nicht, im Gegenteil: Er weitete sie eher aus. Solange nicht die gesamte Regierung geht, will sich das libanesische Volk nicht besänftigen lassen, dazu kamen weitere Forderungen.

Dass die Sudanesinnen und Sudanesen ihren Langzeitherrscher Omar al-Baschir im April aus dem Amt jagten, hinderte sie nicht, Monate später in Khartum und anderen Städten auf der Auflösung der 30 Jahre lang regierenden Nationalen Kongresspartei zu insistieren.

Auch das stellt eines der Charakteristika der weltweiten Proteste dar: Sie kommen in Wellen, schwappen über und ebben wieder ab. Eben weil es nicht ein einzelner Grund ist, der sie antreibt, sondern ein Gemenge aus vielen, kocht der Zorn jederzeit wieder hoch. Und nicht jeder aufwallende Protest muss sich zu einer Massendemonstration auswachsen.

"Leaderless Revolution"

Auch das Postulat, wonach jeder Aufruhr eine Führung braucht, wurde über Bord geworfen: In Hongkong nahmen die Behörden den bekannten Politaktivisten Joshua Wong schon mehrmals fest – für den Rest der Bewegung änderte das aber nichts. Wong ist ihr wohl prominentestes Gesicht, aber eben nur eines.

Der Politikwissenschafter Brannen sieht gar ein "neues Zeitalter der Leaderless Revolution", also der kopflosen Revolution angeschlagen. Nicht dass Anführer oder Anführerinnen gar nicht zugelassen seien – es brauche sie nur nicht.

In den bald sechs Monaten, die die Proteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone bereits anhalten, wurde der zivile Ungehorsam trotz oder vielmehr aufgrund wachsender Bedrohung aus Peking über andere Wege perfektioniert: "Sei wie Wasser" lautet die von der Kampfsport- und Filmlegende Bruce Lee übernommene Taktik: form- und gestaltlos.

Die Massen meiden festgelegte Strategien, wenn sie durch die Straßen marschieren, sie verändern unvermittelt die Richtung, kapseln sich ohne Absprache in kleinen Einheiten ab und legen spontan das nächstgelegene Gebäude lahm.

Nicht ideologische Überzeugungen halten die Proteste zusammen, sondern Hashtags. Und die verbinden weltweit: Es ist kein Zufall, dass in Katalonien nach Hongkonger Vorbild der Flughafen von Barcelona blockiert und kurz darauf die Fahne der spanischen Provinz auf Hongkongs Straßen geschwenkt wurde. (Anna Giulia Fink, 9.11.2019)