Im Gastkommentar ruft Goran Buldioski, der Leiter des Berliner Büros der Open Society Foundations, in Erinnerung, dass die jüngste Generation in den osteuropäischen Ländern für Wandel steht und man deshalb den Abwanderungsprozess in den Griff bekommen müsse. In einem weiteren Gastkommentar widmet sich Mark Leonard den Gräben zwischen Ost- und Westeuropa.

Ein neuer Bericht der Open Society erfasst drei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer ein Meinungsbild der vor und nach 1989 geborenen Bevölkerung in Deutschland, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Tschechien und der Slowakei. Die beunruhigenden Ergebnisse zuerst: Die Demokratie wird in allen Ländern als gefährdet empfunden. In jedem Land außer Deutschland gaben mehr als 60 Prozent der Befragten an, dass sie den Rechtsstaat bedroht sehen, und gut die Hälfte aller Befragten der jüngeren Generation ist der Meinung, dass die Meinungsfreiheit in ihrem jeweiligen Heimatland in gleicher Weise gefährdet ist. Nur ein Viertel der über 40-Jährigen hält die Welt heute für einen sichereren Ort als 1990.

67 Prozent der Rumänen beunruhigt, dass viele Menschen ihr Land verlassen. Ähnlich ist die Situation in Bulgarien (65) und Ungarn (62). Jeder zweite Pole, Slowake und Tscheche teilt diese Angst. Die EU-Bewegungsfreiheit eröffnet eine Fülle von Möglichkeiten für Arbeit und Studium, trägt aber auch zu einem Fachkräftemangel und rückläufigen Geburtenraten bei. Paradoxerweise führt dies dazu, dass sich in der Gesellschaft eine Angst vor Einwanderung festsetzt.

Anlässlich der Feierlichkeiten zu 30 Jahren Mauerfall in Berlin wird das Bild eine Massendemonstration aus dem Jahr 1989 auf die Mauer des ehemaligen Hauptquartiers der Stasi projiziert.
Foto: APA / AFP / John Macdougall

Geist des Widerstands

Die guten Nachrichten: Ein unduldsamer Geist des Widerstands nimmt zu. 50 Prozent (Tschechien) bis 72 Prozent (Bulgarien) sind der Meinung, dass es NGOs und gemeinnützigen Institutionen erlaubt sein sollte, Kritik an der Regierung zu üben (Polen: 70 Prozent, Rumänien: 66, Deutschland, Slowakei: 64, Ungarn: 55). Die Mehrheit der Polen, Bulgaren und Ungarn ist der Meinung, dass die Zivilgesellschaft nicht stärker von der Regierung reguliert und kontrolliert werden sollte – sie betrachtet sie als Korrektiv für eine übermächtige politische Klasse.

Die akademische Freiheit bleibt kostbar. Für mehr als 70 Prozent der Befragten sollten akademische Institutionen mehr Spielraum haben, um Kritik an der Regierung zu üben, mit 82 Prozent erreicht Bulgarien hier den höchsten Wert.

Aufruf zum Handeln

In der gesamten Region herrscht ein kollektiver Sinn für Solidarität mit den traditionell marginalisierten Gruppen im eigenen Land: Menschen mit niedrigem Einkommen, Älteren, Behinderten. Die jüngste Generation spielt eine progressive Vorreiterrolle mit einem weitgefassten Verständnis von sozialer Gerechtigkeit – deutlich umfassender als jenes der Älteren gegenüber ethnischen Minderheiten, LGBT, Flüchtlingen und Einwanderern. Da es sich um eine Generation mit einem bemerkenswerten Mobilisierungspotenzial handelt, hat sie großen Einfluss auf den Wandel.

Auch wenn Pessimismus weitverbreitet ist, der Populismus verführerisch bleibt, sollte man diese Ergebnisse nicht durch eine allzu dunkle Brille betrachten. Die junge Generation nimmt die vielfältigen Bedrohungen der Demokratie wahr, stellt sich aber immer stärker den Herausforderungen und solidarisiert sich sogar mit neuen Minderheitengruppen. Sie ist jedoch nur so lange eine Vorhut, wie die Bürger Präsenz zeigen. Zu den Hauptaufgaben dieser Länder und der EU gehört es, den Abwanderungsprozess der jüngsten Generation in den Griff zu bekommen, der dazu führen könnte, dass Mittel- und Osteuropa sein größtes Potenzial für einen Wandel verliert. (Goran Buldioski, 10.11.2019)