Im Gastkommentar tritt die Historikerin Shoshana Duizend-Jensen dafür ein, dass in jedem Bezirk und in jeder Ortschaft, in der bis 1938 Jüdinnen und Juden lebten, an den Verlust der jüdischen Vielfalt erinnert wird.

Wenn ich durch die Straßen Wiens gehe und mein Wissen über das ehemalige blühende jüdische Leben ins Bewusstsein hole, überkommt mich eine unendliche Trauer. Wien 2, Zirkusgasse 22: Hier stand die prachtvolle Synagoge der türkischen Israeliten (Sephardim), prunkvoll ausgestattet, innen in Gold und Marmor. Hier tanzten an dem Simchat-Thora-Fest, dem Fest der Thorafreude, zu den Klängen von herrlichem, orientalischem Kantoralgesang die Nachfahren der aus Spanien vertriebenen Juden, und sie trugen zu diesem besonderen Anlass als türkische Untertanen einen Fez. Heute befindet sich an genau diesem, nicht ebenmäßig rechtwinkelig gelegenen Platz ein schmuckloser Wohnbau.

Lichtzeichen des Künstlers Lukas Maria Kaufmann erinnern an zerstörte Synagogen in Wien.
Foto: APA / Hans Punz

Es hat sich schon einiges verändert: Seit 1988 gibt es Gedenktafeln, mit der Dämmerung beginnen vor jeder größeren ehemaligen Synagoge Wiens täglich Lichtstelen zu leuchten, regelmäßig sieht man Menschentrauben mit ihren Fremdenführern, die das "Jüdische Wien" erkunden und betroffen auf die hunderten "Steine der Erinnerung", die an die ermordeten Wiener Jüdinnen und Juden gemahnen, blicken.

Mangelndes Bewusstsein

Aber eines fehlt mir dabei: Das Bewusstsein dafür, wie in der Nachkriegszeit mit diesem Thema umgegangen wurde. Überall in Wien waren nicht nur die Reste der bombengeschädigten Gebäude, sondern auch die Trümmer der ehemaligen, an einem Tag, dem 10. November 1938, geplünderten und verbrannten Wiener Synagogen sowie die Baulücken, die sie hinterlassen haben, zu sehen. Die Ruinen des imposanten Leopoldstädter Tempels in der Tempelgasse 3–5 wurden erst 1951 entfernt, in diesem hatten die Kinder des Kinderheims der Israelitischen Kultusgemeinde, von denen viele die Shoa nicht überlebten, gespielt. Die Überreste der Synagoge in Wien 2, Pazmanitengasse 6 waren noch 1941 ein "Riesenschutthaufen", über den sich die Hausverwaltung des Nachbarhauses ärgerte. Auf dem Platz der "Polnischen Schul" in der Leopoldsgasse betrieb in den 1950er-Jahren ein Altwarenhändler ein Geschäft für Altmetall. In der Synagoge in Wien 16, Hubergasse 8 machten sich bis 1970 Verfall und Ungeziefer breit. Die Jugendstilsynagoge in Wien 19, Dollinergasse 3 wurde 1939 eine Lebensmittelfabrik, sie wurde erst 1995 demoliert.

Die 1908 von Oskar Marmorek erbaute jüdische Badeanstalt in der Floßgasse 14 in Wien 2 ist das jüngste "Opfer". Sie wurde im Angesicht der erstaunten Nachbarn 2018 schnellstens abgerissen, bevor eine Novelle der Wiener Bauordnung in Kraft trat, die das mit Sicherheit verhindert hätte. Eine engagierte Historikerin und die Zivilgesellschaft kämpften erst in jüngster Zeit um den Erhalt der Synagoge Gänserndorf, die einem Parkplatz weichen sollte.

Steinerne Zeugen

Damit möchte ich aber nicht die vielen Forschungs- und Erinnerungsprojekte, die virtuellen Rekonstruktionen von Synagogen und vieles mehr, schmälern. Aber erinnern wir uns noch mehr daran, wie ab 1945 mit dem Verschwinden der steinernen Zeugen des jüdischen Lebens, den Synagogen, Bethäusern, jüdischen Waisenhäusern, Altersheimen und Friedhöfen verfahren wurde.

Es wäre dringend an der Zeit, dass sich in jedem Bezirk und in jeder Ortschaft, in der bis 1938 Jüdinnen und Juden lebten, Initiativen bilden, die den Verlust der Vielfalt des jüdischen Gemeinde- und Vereinslebens und dessen Zerstörung spürbar machen. Noch viel mehr als es bisher schon geschehen ist. Erzählen wir die jüdische Geschichte nochmals neu, das Bewusstmachen dieses letzten Prozesses der Vernichtung des jüdischen Anteils an der Geschichte Österreichs in der Zweiten Republik ist notwendig. (Shoshana Duizend-Jensen, 8.11.2019)