Die Rettung von Fouad und anderen Leuten von einem Holzboot war die letzte der Aquarius.

Foto: Bianca Blei

Fouad an Bord der Aquarius, deren Besatzung ihn und seine Familie im September 2018 aus dem Mittelmeer gerettet hat.

Foto: Bianca Blei

Vor einem Jahr noch war Fouad mit seiner Frau und den vier Kindern eingesperrt. In einem Erstaufnahmezentrum der maltesischen Behörden wartete er darauf, abgeholt zu werden – Richtung Portugal. 45 lange Tage waren es, wie er sich im Videogespräch mit dem STANDARD erinnert. Wie im Gefängnis sei es gewesen, die Familie musste sich einen Raum mit 26 anderen Leuten teilen.

Zuvor hatten Einsatzkräfte der Küstenwache Maltas den 38-jährigen Libyer vom privaten Rettungsschiff Aquarius geholt, das von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen betrieben und mittlerweile durch die Ocean Viking ersetzt wurde.

Der Atheist war aus seinem Heimatland geflohen, weil ihn fanatische Muslime als "Teufel" beschimpften, seine Frau Maha angriffen, weil sie keinen Hidschab trägt, und er seinen Kindern eine Kindheit ohne religiösen Fanatismus ermöglichen wollte. Er sah keinen anderen Ausweg als die gefährliche Flucht über das Mittelmeer. "Ich hatte Angst, meine Frau hatte Angst, doch uns blieb keine andere Wahl. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: den Tod oder das Leben", sagte er kurz nach seiner Rettung an Bord des Schiffs.

Erkenntnis der Realität

Doch auch mehr als ein Jahr nach seiner Ankunft in Europa hat das Leben für den Libyer noch nicht wirklich begonnen. Er sitzt quasi noch immer im Warte zimmer. Denn die Euphorie über den Neuanfang nach der Ankunft am Flughafen von Lissabon wich schnell der Erkenntnis einer harten Realität. Die sechsköpfige Familie wurde in das zentralportugiesische Coimbra gebracht – etwa auf halber Strecke zwischen Lissabon und Porto. Dort begrüßte sie eine Frau, die in den kommenden Monaten mit ihrer kleinen NGO für die Betreuung der Asylwerber zuständig sein sollte.

"Der erste Schock war das Apartment, das sie uns zeigte", erinnert sich Fouad. Er schickt als Beleg Handyaufnahmen von einer rostigen Badewanne, einem zerfetzten Sofa und verschmutzten Matratzen. Der Verantwortlichen war es laut seiner Darstellung egal. Überhaupt sei die Kommunikation schwierig gewesen, weil die Frau nicht Englisch gesprochen habe und sie sich per Google Translate austauschen mussten, sagt der 38-Jährige. Mit den 600 Euro, die er pro Monat von der NGO ausbezahlt bekommen hat, und der Spende eines STANDARD-Lesers, mit dem er seit dem Bericht von der Aquarius in Kontakt ist, renovierte der Familienvater die Wohnung: "Wir haben geputzt, gewerkt und ausgemalt", sagt Fouad. "Dann war es endlich ein Platz, der für meine Kinder geeignet war."

Untersuchung gefordert

Bereits im Vorjahr hatte die Vorsitzende der portugiesischen Flüchtlingshilfsorganisation CPR, Teresa Tito de Morais, die Unterbringung von Asylwerbern und Flüchtlingen im Land kritisiert. Ende 2018 war der Fall von drei Familien bekannt geworden, die in Coimbra ohne Wasser und Elektrizität leben mussten. Tito de Morais forderte damals eine "dringende Untersuchung der Vorfälle".

Prinzipiell ist es in Portugal so, dass der Staat die Betreuung von Asylwerbern an Hilfsorganisationen auslagert. Dabei können große NGOs wie die Caritas beauftragt werden, aber ebenso gut kleine Vereine den Zuschlag erhalten. Das größte Problem ist laut CPR-Sprecherin Monica Frechaut die Unterbringung der Asylwerber. Denn adäquates Wohnen sei teuer, und die Organisationen er halten pro betreuter Person nur 6000 Euro vom Staat. Von diesem Geld müssen sie 18 Monate lang alle Ausgaben begleichen sowie den Unterstützungsbeitrag von 150 Euro pro Person im Monat ausbezahlen. Dabei gebe es keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern.

Schmerzen des Sohnes

Laut Fouads Erzählungen war das Leben in Portugal, nachdem er die Wohnung renoviert hatte, in Ordnung. Das Ehepaar fand Freunde, und die Kinder fühlten sich in der Schule wohl. Bis zu dem "Vorfall", wie Fouad ihn nennt. Sein sechsjähriger Sohn klagte eines Tages über Schmerzen am After.

Als seine Mutter Maha, die in Libyen als Krankenschwester tätig war, nachsah, entdeckte sie viel Blut. Der Bub erzählte von älteren Burschen in der Schule, die ihm aufs Klo gefolgt waren und Finger eingeführt hätten. Fouad brachte den Buben ins Krankenhaus – die Berichte liegen dem STANDARD vor –, doch trotz Anzeige verfolgten die Behörden den Fall nicht weiter.

Der 38-Jährige spricht schneller, als er vom Spießrutenlauf von einer Stelle zur nächsten erzählt: Polizei, Flüchtlingsombudsmann, private Hilfsorganisationen. Niemand habe ihm geholfen. Die Zuständigen schweigen auch nach einer offiziellen Presseanfrage des STANDARD und verweisen auf den Datenschutz.

Fouad wurde es zu viel: Er setzte seine Familie und sich selbst in einen Bus und verließ das Land – obwohl sie alle noch mitten im Asylverfahren steckten. Ihr Ziel war Luxemburg, wo sie sich auch heute noch befinden. Die dortigen Behörden haben ihr Asylansuchen übernommen, die Familie hatte Ende Oktober ihre ersten Gespräche.

Dublin-III-Übernahmen

Laut Georges Bley, dem Sprecher des luxemburgischen Außenministeriums, hat der Staat heuer in den ersten acht Monaten 57 Asylansuchen von anderen EU-Mitgliedsstaaten entsprechend der Dublin-III-Verordnung übernommen. Das passiere unter anderem dann, wenn Familien zusammengeführt werden sollen, oder wegen humanitärer Gründe, so Bley. Zu Fouads Fall könne er keine Auskunft geben – wieder ist der Datenschutz schuld.

"Wir wollen in Luxemburg bleiben", sagt Fouad, der gemeinsam mit seiner Frau Maha bereits Französischkurse besucht und sich ehrenamtlich bei einem Behindertenverein engagiert: "Hier können wir in Frieden leben, und ich möchte Teil der Gesellschaft werden und etwas zurückgeben." (Bianca Blei, 11.11.2019)