"Wir sind schon auf dem Brenner. Das hat Udo Jürgens vor der Fußball-WM 1990 mit der deutschen Nationalmannschaft gesungen. Wenig später, das weiß jedes Kind, war Deutschland Weltmeister. Nur wenige wissen, dass Deutschland fast nicht zur WM gefahren wäre. Am 15. November 1989, im letzten Qualifikationsspiel, führte Wales in Köln mit 1:0, Völler und Hässler drehten das Spiel. Wales vergab im Finish noch eine riesige Chance, den 60.000 im Stadion ist fast das Herz stehengeblieben – bei 2:2 hätte Deutschland die WM verpasst. Da wären wir nicht über den Brenner gefahren.

Reiner Calmund ist auch mit 70 Jahren noch ein gewissenhafter Beobachter der Fußballszene.
Foto: imago/Jan Huebner

Natürlich war ich im Stadion. Aber ich hatte ein Ohr auch in Wien, wo Österreich am selben Tag gegen die DDR um die WM-Teilnahme spielte. Eigentlich war es viel mehr als ein Ohr. Ich war damals Manager von Bayer Leverkusen und hatte offiziell die zwei wichtigsten Scouts nach Wien geschickt, wie viele andere Vereine auch. Doch zusätzlich setzte ich noch ein U-Boot ein. Wolfgang Karnath war Chemielaborant bei Bayer, in Wahrheit war er Mädchen für alles im Verein. Das war so ein Typ, der hinter dir in die Drehtür ging und vor dir herauskam. Ein Bauernschlauer. Dem besorgte ich eine Fotografen-Akkreditierung. Mit der Presseabteilung im österreichischen Fußballbund war ich lange gut bekannt. "Calli, was wollen Sie denn damit?", fragten die mich. "Wir beobachten den Polster", gab ich zurück, "aber haltet die Schnauze."

"Wir beobachten den Polster", gab ich zurück, "aber haltet die Schnauze."

Mauer gefallen

Sechs Tage vorher war die Mauer gefallen. Die Wiedervereinigung stand vor der Tür. Bayer Leverkusen hat viel hergemacht in diesen Jahren. 1988 hatten wir den Uefa-Cup gewonnen. Da hat's geknallt, da hat's gerauscht, auch in den Jahren danach. Ich war kein echter Kenner des DDR-Fußballs, aber ich wusste, dass es herausragende Talente gab. Matthias Sammer hatte die DDR bei der U20-WM 1987 in Chile auf den dritten Platz geführt. Ulf Kirsten und Andreas Thom kamen dazu. Diese drei wollte ich holen. Ich wusste, wir mussten schnell sein. Wenn mir jetzt jemand vorhält, ich sei der erste Profiteur der Wende gewesen, fang ich gar nichts damit an. Wir hatten das beste Scouting. Wenn ich nicht zur Stelle gewesen wäre, hätte ein anderer zugeschlagen.

Mit seinem Fotografenausweis durfte der Karnath sogar in den Stadion-Innenraum, und er leistete ganze Arbeit. Ich saß in Köln auf der VIP-Tribüne, als plötzlich jemand rief: "Calli, Telefon!" Das war Reiner Franzke, Chefreporter des Magazins "Kicker". Der saß hinter den VIPs, er hatte ein Telefon, und Karnath hat sich diese Nummer besorgt, weil er mich unbedingt erreichen wollte. Wir waren ja noch in der Vor-Handy-Zeit. Karnath erzählte mir, er könnte nach dem Match in Wien mit der DDR-Mannschaft ins Quartier nach Lindabrunn fahren. Ich sagte ihm, er soll zwei Dialekte sprechen. Die Österreicher sollten glauben, er komme aus der DDR, und die aus der DDR sollten glauben, er sei Österreicher. Bevor er aufgelegt hat, sagte Karnath zu mir: "Küss die Hand, gnä' Frau." So einer war das.

Die Österreicher sollten glauben, er komme aus der DDR, und die aus der DDR sollten glauben, er sei Österreicher.

Es ging alles auf. Karnath stand die meiste Zeit mit seiner Kamera hinter der DDR-Trainerbank, er schaffte es sogar, noch vor dem Schlusspfiff neben den Ersatzspielern zu sitzen. Das Match war nach den drei Polster-Toren bei 3:0 längst entschieden. So hat Leverkusen den Kontakt zu den Spielern hergestellt, die wir holen wollten, zu Thom, Kirsten und Sammer. Mit denen war Karnath schon per du, da suchten die anderen Spione noch ihre Visitenkarten. Er besorgte alle Daten, vor allem die genauen Adressen. Straße, Hausnummer, Stockwerk, Wohnungstür. Das war ganz wichtig, sonst hätten wir uns heillos verlaufen. Wo die Fußballer wohnten, gab es keine Gegensprechanlagen und keine Türschilder. Wir durften uns ja keinesfalls telefonisch anmelden.

Pralinen für Frau Thom

Die Angel war ausgelegt. Und am Donnerstag, 24 Stunden nach dem Spiel in Wien, saß ich bei Thom in der Wohnung. Seiner Frau brachte ich Blumen und Pralinen mit, der Tochter Spielsachen. Andreas war nervös und ängstlich. Ich beruhigte ihn, sagte ihm und vielleicht auch den unsichtbaren Zuhörern hinter der Tapete, dass wir den ganz offiziellen Weg gehen wollen. Da wurde er lockerer. Ich präsentierte ihm unser Konzept, wir sprachen auch schon über Konditionen. Thom war ein Riesenfußballer, pfeilschnell, perfekt am Ball, beidbeinig. Mein lieber Mann, so einer müsste bei Real Madrid oder Barcelona spielen, nicht bei Leverkusen. Das wusste ich. Deshalb wollte ich ihn. Für unser Budget war das noch machbar, wenn auch mit Schweißperlen auf der Stirn.

Kurz nach dem ersten deutsch-deutschen Transfer Ende 1989 wollte nicht nur Calmund (links hinter Thom) mit aufs Bild.
Foto: Calmund

Ich schrieb dann einen förmlichen Brief und schickte ihn – per Lochkarte über Fernschreiber – an alle Instanzen. Das waren der Deutsche Turn- und Sportbund, der DDR-Fußballverband, der Verein BFC Dynamo und sogar das DDR-Innenministerium. Ich wurde auch selbst im DDR-Verband vorstellig, um mir den Eingang des Schreibens bestätigen zu lassen. Vier Wochen später war der Transfer perfekt. Am 12. Dezember wurde er verkündet. Den Kirsten konnte ich später auch noch nach Leverkusen lotsen, da war viel Glück dabei, er wäre fast bei Dortmund gelandet. Nur mit dem Sammer klappte es nicht, weil es ein politisches Veto gab. Helmut Kohl, der Bundeskanzler, hatte sich eingemischt. "Sie können doch nicht so einfach die DDR leerkaufen", hat er gesagt. Die Bosse der Bayer AG befürchteten einen Imageverlust, deshalb ging Sammer nach Stuttgart.

Transferrechte, Sponsoring, TV und Marketing waren keine Lehrfächer in der DDR.

Endlich raus

Jetzt komm ich endlich raus, dieser Gedanke kam nach dem Fall der Mauer natürlich auch den Fußballern. Die wollten schon vorher raus, aber sie wollten ihre Familien nicht zurücklassen. Ihre sportliche Ausbildung war hervorragend. Die DDR war in der Nachwuchsarbeit gut, weil es große Sportschulen gab, die vom Staat finanziert wurden. Nach 1989 gab es das alles nicht mehr, weil es den Staat nicht mehr gab. Über Nacht wurde das für den Fußball dort eine problematische Kiste. Betriebswirtschaft wurde dort weder studiert noch gelebt. Transferrechte, Sponsoring, TV und Marketing waren keine Lehrfächer in der DDR.

Dass die DDR in Wien verlor, war keine Überraschung. Die Spieler waren null fokussiert auf das Spiel gegen Österreich. Die sind am 9. November und an den Tagen danach stundenlang vor den Fernsehgeräten gesessen. Wir alle hatten viereckige Augen. In meinem Leben gab es nur drei Ereignisse, die mich so in den Bann gezogen haben. Die Mondlandung, den Fall der Mauer und 9/11. Am Tag nach dem Mauerfall fuhr ich nach Berlin, weil ich das dort miterleben wollte. Das war mein Highlight, ich war unterwegs, hab die Nacht durchgefeiert, durchgequatscht. Alle waren glücklich wie in dieser Form danach nie mehr." (Zugehört und aufgezeichnet hat: Fritz Neumann, 11.11.2019)