La Paz – Nach dem Rücktritt des bolivianischen Präsidenten Evo Morales war Montagfrüh immer noch unklar, wer den Andenstaat in Neuwahlen führen würde. Neben dem linksgerichteten Präsidenten waren auch dessen Stellvertreter Álvaro García Linera, die Senatspräsidentin Adriana Salvatierra und zahlreiche Minister zurückgetreten. Die Verfassung des Landes sieht nur Vizepräsident und Senatspräsidentin als Stellvertreter vor.

Oppositionspolitikerin erhebt Machtanspruch

Nun sollen laut Berichten Abgeordnete zusammentreten, um über die Interimsführung des Landes zu entscheiden. Die Vizepräsidentin des Senats, Oppositionspolitikerin Jeanine Añez, sagte dem Nachrichtenportal Infobae, das Parlament müsse sie zur Interimspräsidentin ernennen.

Jeanine Añez will Interimspräsidentin werden.

Morales war nach langanhaltenden Protesten wegen angeblicher Wahlfälschungen bei der Wahl vom 20. Oktober am Sonntagabend aus dem Amt geschieden. Stunden zuvor hatte er noch Neuwahlen angekündigt. Millionen Demonstrantinnen und Demonstranten, aber vor allem auch Militär und Polizei hatten jedoch den vollständigen Rücktritt des Staatschefs verlangt.

Morales sprach in seiner Rücktrittsrede von einem Putsch. Er stelle sein Amt zur Verfügung, um damit der Gewalt im Land Einhalt zu gebieten. "Oligarchen" hätten sich gegen die Demokratie in Bolivien verschworen, sagte der 60-jährige Linkspolitiker, die Häuser mehrerer seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter seien in Brand gesteckt, Familien angegriffen worden. Sein Amtsverzicht solle dazu dienen, den sozialen Frieden im Land wiederherzustellen, so Morales, der seine Gegner Tage zuvor noch als Gauner und Kriminelle bezeichnet hatte. "Das schmerzt sehr", fügte er hinzu.

"Ende der Tyrannei"

Ob er selbst bei einer geplanten Neuwahl wieder antreten werde, hatte Morales schon bei seiner Neuwahlankündigung Stunden zuvor offengelassen. Es gehe jetzt nicht um Kandidaturen, sondern um eine Beruhigung der Lage. Nach den Wünschen der Protestbewegung sollen weder Morales noch sein als gemäßigt-konservativ geltender Wahlgegner und Amtsvorgänger Carlos Mesa (2003–2005) noch einmal zur Wahl antreten. Mesa begrüßte die Entwicklungen dennoch in einem Tweet am Sonntagabend, er sprach von einem "Ende der Tyrannei" im Land. Ein erneuter Antritt Morales' gilt realpolitisch als sehr unwahrscheinlich.

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Demonstranten zerstörten ein Porträt von Präsident Evo Morales.
Foto: AP

In der Nacht auf Montag war es in La Paz erneut zu Unruhen gekommen. Auf TV-Bildern waren brennende Häuser zu sehen – womöglich jene, von denen auch Morales in seiner Rede gesprochen hatte. Auch hatte es erneut Zusammenstöße zwischen Anhängerinnen und Anhängern des zurückgetretenen Präsidenten und den Sicherheitskräften gegeben.

Demonstranten zündeten das Haus Bergbauminister Cesar Navarros an.
Foto: APA/AFP/Bolivian Presidency/

Diese hatten ja zuvor angekündigt, sich "nicht gegen das Volk" stellen zu wollen, damit aber vor allem die oppositionellen Demonstrantinnen und Demonstranten gemeint. Bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegner Morales' sind seit der Wahl mindestens drei Menschen getötet worden.

"Illegaler Haftbefehl"

Wegen der Parteinahme der Sicherheitskräfte war am Sonntag die Sorge vor einem gewaltsamen Putsch des Militärs aufgekommen. Wohl auch deshalb hatten zahlreiche Mitglieder der Regierung versucht, außer Landes zu kommen. Morales selbst hatte nach seinem Rücktritt dann von einem "illegalen Haftbefehl" gegen ihn gesprochen – dessen Existenz bestritten allerdings wenig später Militär und Polizei. Der als Präsident Zurückgetretene war vorerst weiter auf freiem Fuß. Er war via Flugzeug aus La Paz abgeflogen – offenbar in seine Hochburg Chapare. Angeblich hatten Nachbarländer der Maschine keine Überfluggenehmigung erteilt und so eine Ausreise aus dem Binnenstaat Bolivien verhindert.

Morales' Flugzeug verließ Sonntagabend La Paz.

Die Generalstaatsanwaltschaft kündigte an, im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Wahlbetrug Ermittlungen aufnehmen zu wollen – zunächst aber gegen die Wahlkommission, nicht gegen Morales.

Asylangebot Mexikos

Die Regierungen Lateinamerikas reagierten entlang ihrer ideologischen Ausrichtung unterschiedlich auf die Vorgänge. Das konservativ geführte Kolumbien forderte, nun müssten alle Bolivianerinnen und Bolivianer die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung haben. Das vom rechtsextremen Jair Bolsonaro regierte Brasilien teilte mit, man begrüße angesichts des "massiven Wahlbetrugs" den Rücktritt Morales'.

Polizisten in La Paz feiern den Rücktritt des Präsidenten.
Foto: APA/AFP/DANIEL WALKER

Venezuelas linksgerichteter Präsident Nicolás Maduro und der neugewählte linksliberale Staatschef Argentiniens, Alberto Fernández, sprachen hingegen von einem Putsch. Auch Kuba forderte Solidarität mit Morales. Mexiko, das seit dem Vorjahr eine linkspopulistische Regierung hat, bot dem Ex-Präsidenten und anderen früheren Mitgliedern der Regierung Asyl an. Mehrere Vertreter der Morales-Partei Mas (Movimiento al Socialismo) befänden sich bereits in der Botschaft des Landes in La Paz, teilte Außenminister Marcelo Ebrard mit.

Demonstration gegen Evo Morales.
Foto: APA / AFP / Jorge Bernal

Morales, der seit 2006 regierte, hatte das Land zwar durch eine Ära des Wirtschaftswachstums und des sozialen Ausgleichs geführt. Allerdings wurden Vorwürfe der autoritären Amtsführung immer lauter. Bei einem Referendum, das ihm nach Auslaufen seiner zwei Amtszeiten heuer ein erneutes Antreten ermöglichen sollte, scheiterte er 2016 knapp. Ein Urteil des Obersten Gerichts, das Amtszeitbeschränkungen insgesamt mit Verweis auf die Menschenrechte aufhob, ermöglichte ihm die erneute Kandidatur dann aber trotzdem.

Merkwürdige Stimmentwicklung

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatten in einem kurz davor veröffentlichten Untersuchungsbericht zur Wahl von schweren Unregelmäßigkeiten gesprochen und eine Anerkennung des Wahlergebnisses verweigert. Morales hatte laut offiziellen Zahlen 47,08 Prozent der Stimmen erhalten, Mesa war auf 36,51 Prozent gekommen, der weiter rechts stehende Christdemokrat Chi Hyun Chung auf 8,8 Prozent. Laut Boliviens Wahlrecht gilt als Sieger, wer entweder die absolute Mehrheit der Stimmen oder über 40 Prozent und mehr als zehn Prozentpunkte Abstand zum Zweiten erreicht.

Die Stimmentwicklung bei der bolivianischen Präsidentenwahl im Bericht der OAS. Die Linie zeigt, dass Morales gegen Ende der Auszählung massiv mehr Stimmen erhielt als zu deren Beginn.
Foto: Screenshot

Nach der Auszählung von 84 Prozent der Stimmen hatte Morales mit nur 44 zu 40 Prozent der Stimmen geführt. Danach kam es zu einer Unterbrechung der Auszählung und zum angeblichen Ausfall des zuständigen Computersystems. Als zwei Tage später die Systeme wieder liefen, wiesen sie Morales knapp mehr als die nötigen zehn Prozentpunkte Vorsprung aus. Er selbst führte das auf die nun ausgezählten Stimmen der ärmlichen Landbevölkerung zurück, seine Gegner auf Betrug. Im nun veröffentlichten Bericht der OAS heißt es, das Ergebnis sei auch unter Einbeziehung der Landbevölkerung "statistisch unwahrscheinlich" und stehe nicht im Einklang mit Entwicklungen bei früheren Wahlen in Bolivien. Betrug beweisen könne man aber nicht. Dass Morales eine relative Mehrheit der Stimmen gewonnen habe, sei wahrscheinlich. Daher hatte die OAS eine Neuwahl empfohlen. (Manuel Escher, 11.11.2019)

Feiernde Nonnen in La Paz.
Foto: APA/AFP/DANIEL WALKER