Thomas Brezina in den Fußstapfen Rosamunde Pilchers? Verlagsaussendungen berufen sich offensiv auf die Schnulzenqueen. Filmproduzenten sollen schon Interesse haben.

Foto: Lukas Beck, edition a

Bittet ein Skorpion einen Frosch, ihn über den Fluss zu bringen. Sagt der Frosch zu ihm: Du wirst mich mitten im Fluss stechen. Sagt der Skorpion: Aber nein, so töte ich doch uns beide. Der Frosch willigt ein, der Skorpion sticht ihn: Es liege eben in seiner Natur. Es ist ebenso müßig, den Skorpion dafür anzuklagen wie Thomas Brezina für sein neues Buch. Beide können nicht anders. Immerhin tötet die Lektüre nicht.

Brezina hat es also wieder getan und ein Buch für Erwachsene geschrieben, die gerne Bücher lesen, die klingen, als wären sie für Jugendliche geschrieben worden. Liebesbrief an Unbekannt (Edition a) ist ein Liebesroman mit Detektivanteil oder zumindest mit viel Rätselraten: Wer ist der Mann, der Emmas postalische Liebesgesuche ans Universum so einfühlsam beantwortet? Ist es der fesche Anwalt Jeremy oder doch der nette Barkeeper Eric?

Zuletzt ist es bei der Endzwanzigerin Emma nämlich nicht gut gelaufen. Die Edelhotelierstochter aus Salzburg hat ... ach, verderben wir die Spannung nicht. Sie sitzt jetzt jedenfalls im etwas muffigen B&B ihrer Tante im englischen Küstenstädtchen Brighton, und ihr fällt die Decke auf den Kopf: kein Geld, kein Plan, kein Mann. Letzteren Mangel will Emma beheben, indem sie auf Anraten einer Freundin, die sich als Wahrsagerin verdingt, Liebesbriefe nach dem Modell selbsterfüllender Prophezeiungen verfasst.

Gute Energien, spekulative Briefe

"Eigentlich sollte ein so hoffnungsloser Mensch wie ich alle Hoffnung aufgegeben haben, aber irgendwas in mir schreit: Tu es nicht, tu es nicht", offenbart sie sich darin. Sie glaubt trotz allem "noch immer daran, dass es Männer mit Herz, Hirn und Verstand gibt, die ehrlich und aufrichtig sind. Männer, die mich nicht ausnehmen oder ausnützen, mit denen ich offen reden und herzlich lachen kann." Wer gute Energie ausstrahle, werde sie ernten, hat sie gehört.

Das Universum liefert tatsächlich postwendend, eines Tages liegt ein Antwortschreiben unter ihrem Briefschlitz. Und dann noch eins und noch eins. Dabei versperrt Emma ihre heimlichen Briefe doch im Schreibtisch! Wie kann sie jemand lesen? Stecken Nazispione dahinter?

Unser Los als Leser ist, dass die Unglückliche dem wehrlosen Papier ganz vertraut. Zugegeben geht es auch substanzieller, aber kein Gedanke ist ihr zu plump, um ihm die Niederschrift zu verweigern: "Gehst du ins Fitnessstudio? Trainierst du? Deine Bauchmuskeln sind stark, und Schwimmreifen scheinst du keinen zu haben", wird da gerätselt. Hatte Emma erst keinen, sind es nun zu viele potenzielle Verehrer, und sie entwickelt Gewissensbisse, die Männerfülle möglichst fruchtbringend zu verwalten.

Domina beim Renovieren

Grundregel Nummer eins für Detektivgeschichten lautet: Nichts ist wirklich so, wie es erst scheint. Auch Liebesromanen kann das den Kick geben. Nebenbei wird Emma Domina und renoviert. Mit vielen Wendungen geht es dahin durch die Gassen Brightons, über den vorsaisonal verregneten Strand und im Cabrio zum Sonntagsessen mit der landadeligen Familie des Verehrers: "Die Mauer, an der wir jetzt eine halbe Ewigkeit entlanggefahren sind, begrenzt euer Grundstück?", fragt sie. "Ich fürchte, dass es so ist. Kommst du trotzdem mit?", sagt er. Natürlich tut sie das.

Die Sätze sind kurz, bedürfen fast keiner Beistriche und haben Freude an handfesten Details wie einem von Emma auf der Vorderseite der Jeans eines Fremden verschütteten Bier, "was peinlich aussah". Man "gönnt sich" zudem einen Bissen vom Vollkorncroissant. Garniert wird mit großen herzlichen Gesten und Stammbuchsprüchen ("Lebe jeden Tag wie eine Perle auf einer langen Kette"). Wie der Kinderbuchkönig Brezina Erwachsenenprobleme anzusprechen vermag, hat er im 2017 erschienenen Knickerbocker-Abenteuer Alte Geister ruhen unsanft für herangewachsene Fans holzschnitthaft gezeigt. Liebesbrief an Unbekannt reiht sich zwischen dem und Brezinas Mädchenbüchern ins OEuvre ein.

Herzensgute "Katastrophenfrau"

Liebensbrief an Unbekannt nimmt es mit jedem Hollywoodschinken über patscherte und enttäuschte, aber herzensgute und im Inneren starke Frauenfiguren auf. Thomas Brezina verkauft darin nicht mehr Kinderabenteuer, sondern Mädchenträume aus dem Erwachsenenleben. Ein bisschen verschämt keck, aber vor allem sehr einfühlsam. Dass sich schon Filmfirmen für den Feelgood-Stoff interessieren, verwundert nicht. Die Datingwelt ist schließlich nicht nur in Brighton voller Enttäuschungen, und sicher noch irgendjemand anderer auf der Welt außer der "Katastrophenfrau" Emma hat die von den Eltern bevorzugte Schwester unter "Würg" im Handy abgespeichert.

Nach fast 400 Seiten geschieht etwas Versöhnliches. Dann ist das Buch nämlich zu Ende, und Thomas Brezina erklärt sich. Der Autor habe vor einigen Jahren selbst solche "Liebesbriefe an Unbekannt" geschrieben, lässt er uns wissen. Manchmal habe er sich vorgestellt, was wäre, wenn jemand darauf antwortete. So wuchs die Geschichte. Seinen jetzigen Mann traf Brezina schließlich in Brighton. Schwule sind in Liebesbrief an Unbekannt immerhin nette Nebenfiguren.

Sind Herz-Schmerz-Romane wie Zucker im Tee, der die Sinne verklebt? Zählt Seelenverwandtschaft mehr als Blutsverwandtschaft? Muss man im Leben mit allem rechnen, vor allem mit dem Schönen und Guten? Fragen über Fragen. (Michael Wurmitzer, 12.11.2019)