Johannes Frasnelli ist Mediziner und Neurowissenschafter. Der gebürtige Südtiroler hat in Wien studiert, seit 2014 lebt und forscht er an der Universität Québec à Trois-Rivières in Kanada.

Foto: Regine Hendrich

Johannes Frasnelli: Wir riechen besser, als wir denken. Molden-Verlag 2019, 176 Seiten, 23 Euro

Foto: Molden

Der Geruchssinn ist der animalischste aller Sinne. Er spielt eine extrem wichtige Rolle in Beziehungen.

Foto: istockphoto

Der Mensch kann zwar etwa 10.000 Gerüche unterscheiden, trotzdem ist der Geruchssinn ein schwer vernachlässigtes Forschungsgebiet. Der Neurowissenschafter Johannes Frasnelli möchte das ändern und hat ein Buch über das Riechen geschrieben. Darin schildert er, welchen Geruch Krankheiten haben, wie Ängste und Depressionen unser Riechvermögen beeinflussen und warum der Geruchssinn einen großen Einfluss auf Emotionen und Erinnerungen hat.

STANDARD: Sie haben ein Buch mit dem Titel "Wir riechen besser, als wir denken" geschrieben. Meinen Sie damit den Geruchssinn oder die Tatsache, wie jemand riecht

Frasnelli: Der Titel ist bewusst zweideutig, weil es um beides geht. Der Geruchssinn ist jener Sinn, der am wenigsten bewusst wahrgenommen wird. Aktiv wie passiv.

STANDARD: Sie meinen im Vergleich zum Sehen und Hören?

Frasnelli: Genau. Hören und Sehen sind dominante Sinneswahrnehmungen, weil sie bewusst sind. Sie müssen durch eine wichtige Schaltstelle im Gehirn, den Thalamus. Als Neurowissenschafter beschäftige ich mich damit, wie Sinneseindrücke verarbeitet werden. Der Geruchssinn erreicht das Bewusstsein nur manchmal.

STANDARD: Warum?

Frasnelli: Das Gehirn funktioniert bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken über Kreuz. Die rechte Gehirnhälfte ist für die linke Körperhälfte zuständig und umgekehrt. Beim Geruchssinn ist das nicht so. Die Eindrücke des rechten Nasenlochs werden auch in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet, müssen also nicht die zentrale Schaltstelle des Thalamus passieren und bleiben so unbewusst. Sie werden auch anders abgespeichert.

STANDARD: Wo genau?

Frasnelli: Im limbischen System, einem evolutionär sehr alten Teil des Gehirns, der auch der Sitz von Gefühlen, Gedächtnis, aber auch von Belohnung ist. Insofern verbinden sich Gerüche oft mit Erlebtem, können deshalb tatsächlich auch Zeitreisen auslösen.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Frasnelli: Gerüche aktivieren Erinnerungen. Gute wie schlechte. Sie können sogar posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) verursachen. Ein Beispiel: US-Soldaten, die im Einsatz gesehen haben, wie Menschen verbrannten, können während eines Barbecues plötzlich Panikattacken bekommen, weil der Geruch von angebranntem Fleisch ein Trigger ist. Das ist ein Extrembeispiel, zeigt aber, wie mächtig der Geruchssinn ist.

STANDARD: Unterscheidet sich der Geruchssinn von Mensch zu Mensch?

Frasnelli: Natürlich. Er ist auch Sache der Erfahrung. Kinder müssen sich erst an bestimmte Geschmäcker gewöhnen, um sie gut zu finden. Prinzipiell hat der Geruchssinn eine wichtige Warnfunktion. Wir erkennen verdorbene Speisen oder fauliges Wasser, die dem Organismus gefährlich werden. Und können sie damit meiden.

STANDARD: Verändert sich der Geruchssinn mit dem Alter?

Frasnelli: Ja, wie alle Sinne wird er mit den Lebensjahren schwächer. Eine Beeinträchtigung des Riechens kann allerdings auch Zeichen einer Erkrankung sein. Wir nehmen an, dass bei Alzheimer oder Parkinson der Geruchssinn schon sehr früh beeinträchtigt ist, ohne dass es die Betroffenen bemerken. Wenn Neuronen im Gehirn in einem Bereich des Gedächtnisses absterben, ist auch das Riechen beeinflusst. Eine Überprüfung des Geruchssinns könnte möglicherweise bei der Früherkennung von Alzheimer oder Parkinson eine Rolle spielen. Solange es keine heilende Behandlung gibt, hat eine Früherkennung allerdings wenig Sinn.

STANDARD: Welche Rolle spielt der Geruchssinn in der Medizin?

Frasnelli: Früher hatte er bei der Diagnose große Bedeutung. Ärzte rochen eine Krankheit. Es ist tatsächlich so, dass bestimmte Infekte wie etwa Staphylokokken oder Streptokokken einen ganz eigenen Geruch auslösen, übrigens auch Stoffwechselstörungen wie Diabetes oder Niereninsuffizienz. Doch insgesamt ist die Wahrnehmung von Geruch sehr subjektiv. Ich bin froh, dass er bei Ärzten heute nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt. Jetzt verlässt man sich eher auf Blickdiagnose oder bildgebende Verfahren.

STANDARD: Auch bei der Erforschung des Geruchssinns?

Frasnelli: Ja, wir schauen uns im EEG an, wie das Gehirn auf Gerüche reagiert, oder untersuchen mit Magnetresonanztomografie, welche Gehirnregionen beim Riechen aktiv sind. So können wir Beeinträchtigungen objektiv erkennen.

STANDARD: Wodurch werden Riechstörungen verursacht?

Frasnelli: In jüngeren Lebensjahren oft durch Schädel-Hirn-Traumata. Gerüche werden durch die Rezeptoren in der Nase über das Siebbein ins Gehirn geleitet. Es ermöglicht, dass die Information durch den Knochen geht. Bei starken Erschütterungen reißen die sogenannten Riechfäden im Siebbein. Die Leute riechen dann nicht mehr, die meisten merken es zunächst nicht einmal.

STANDARD: Wie das?

Frasnelli: Nach einem Schädel-Hirn-Trauma haben Betroffene viele Beschwerden, denken meist, dass das Essen im Krankenhaus fad schmeckt, obwohl sie eigentlich eine Riechstörung haben.

STANDARD: Geht die Riechstörung wieder weg?

Frasnelli: In vielen Fällen schon, denn wir haben Stammzellen in der Nase, die neue Riechrezeptoren ausbilden können. Die Tatsache, dass sich die Geruchsnerven regenerieren können, ist etwas sehr Besonderes. Wir wissen noch nicht genau, wie das geht.

STANDARD: Es gibt auch vorübergehende Riechbeeinträchtigungen. Jeder mit Schnupfen kennt das.

Frasnelli: Das sind aber mechanische Beeinträchtigungen, die durch eine geschwollene Nasenschleimhaut verursacht werden. Wenn die Schleimhaut abschwillt, funktioniert das Riechen wieder. Eine chronische, also andauernde Rhinosinusitis, kann hingegen sehr wohl die Riechrezeptoren in der Nase nachhaltig beeinträchtigen. Es gibt auch bestimmte Virusinfektionen, die den Geruchssinn schädigen können. Wir haben das besonders bei Frauen nach der Menopause beobachtet. Sie nehmen bestimmte Aromen dann nicht mehr wahr.

STANDARD: Wie ist die Verbindung Schmecken und Riechen?

Frasnelli: Ziemlich komplex. Die Hauptgeschmacksrichtungen süß, sauer, salzig und bitter bleiben durch einen Schnupfen unbeeinträchtigt. Die Rezeptoren dafür sind nämlich in Mund und Rachen. Aromen wie Kräuter werden hingegen über die Nase wahrgenommen. Zudem spielt auch das trigeminale Nervensystem eine Schlüsselrolle, weil es für das Erkennen von Hitze oder Schärfe etwa durch Chili oder Pfefferminze zuständig ist. Riechen ist also ein Zusammenspiel verschiedener Systeme. In fast allen Organen und Geweben des Körpers gibt es ebenfalls Riechrezeptoren. Es ist also anzunehmen, dass sie miteinander interagieren. Es verbindet innen und außen.

STANDARD: Welche soziale Funktion hat der Geruchssinn?

Frasnelli: Sicher ist, dass der Geruchssinn der animalischste aller Sinne ist. Er spielt eine extrem wichtige Rolle in sozialen Beziehungen. Etwa in der Sexualität bei der Partnerwahl. Aber genauso auch bei der Bindung zwischen Menschen in der Familie. Auch die Eltern-Kind-Beziehung wird sehr stark über Gerüche gesteuert, das zeigen Studien über die Beziehung zwischen Müttern und Neugeborenen eindrücklich. (Karin Pollack, 12.11.2019)