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Frage ans Forum: Ist irgendjemandem ein SF-Roman bekannt, der den Zerfall der Sowjetunion antizipiert hat? Ich habe noch immer keinen gefunden – kenne allerdings einige Werke, die noch erstaunlich spät in den 80ern das Kalter-Krieg-Szenario auf die Galaxis übertragen haben. Im jüngsten Roman Dietmar Daths bekommt das Ganze einen retrofuturistischen Touch: Kurz vor seinem Kollaps hat der Kommunismus als letztes Hurra noch eine geheime interplanetare Mission auf den Weg geschickt, so weit die Prämisse von "Neptunation". Der Roman dreht sich (zumindest an der Oberfläche) um eine Expedition in unserer Gegenwart, die diesen Pionieren hinterhergeschickt wird.

Eines gleich vorab: "Neptunation" ist weder kurz noch fühlt es sich kurz an. Alleine schon die Vorstellung der Hauptfiguren nimmt über 100 Seiten in Anspruch und kommt als biografisches Puzzle daher, das seine Teile über mehrere Länder und Jahrzehnte verstreut. (Einige davon werden sich aber schon in diesem Anfangsabschnitt zusammenfügen.) Und apropos kurz: Dath hat parallel zu diesem Roman bei Matthes & Seitz unter dem Titel "Niegeschichte" ein Sachbuch zu Geschichte und Wesen der Science Fiction veröffentlicht. Auf satten NEUNHUNDERTZWEIUNDVIERZIG Seiten, die Rundschau hisst die weiße Flagge.

Neue und alte Bekannte

Aber zurück zum Roman: Zu den Protagonisten von "Neptunation" zählen unter anderem Aiguo Sun aus dem chinesischen Raumfahrtprogramm (die Expedition ist im Kern eine europäisch-chinesische Kooperation) oder der deutsch-amerikanische Linguist Christian Winseck. Letzterer entgeht nur knapp einem Anschlag durch mysteriöse "Messermaschinen" nicht-irdischen Ursprungs; auch der deutsche Soldat Meinhard Budde erlebt einen close encounter mit diesen Monstrositäten. Und dann wäre da noch das Liebespaar Liz und Max, das sich in den USA am Rand der Gesellschaft herumdrückt und seine besonderen Fähigkeiten geheim hält.

Liz und Max wurden vom Licht gelesen, wie wir erfahren. Das heißt, sie hatten erleuchtenden Kontakt mit jener fremdartigen Zivilisation, die Dath in seinem vorangegangenen Roman "Der Schnitt durch die Sonne" beschrieben hatte. In Form der deutschen Schülerin Filipa Scholz, die schon im "Schnitt" eine der Hauptfiguren war, gibt es die erste personelle Direktübernahme. Weitere wiederkehrende Figuren aus früheren Romanen Daths bleiben am Rande, eine spielt allerdings eine zentrale Rolle: Denn das Mastermind der neuen Expedition ist niemand anderer als die umtriebige Komponistin(?) Cordula Späth, die sich schon seit den Anfängen von Daths literarischem Schaffen durch sein Werk zieht. Ganz heimlich, still und leise hat er also an seiner eigenen Future History gebastelt, wenn man so will.

Die SF-Elemente

Der Ursprung der Messermaschinen, so erfahren wir, liegt im Asteroidengürtel. Dort hat die sowjetisch-ostdeutsche Expedition von anno dunnemals nach dem Kontakt mit fremden Intelligenzwesen (nicht die Sonnenbewohner, sondern andere) eine faszinierend posthumane Cyborg-Zivilisation aufgebaut. In deren Beschreibung zündet Dath ein SF-Feuerwerk wie seit "Pulsarnacht" nicht mehr. Und doch sind die Dysoniki unter ihrer fremdartigen Oberfläche höchst irdisch geblieben, nämlich zerstritten. Beide Fraktionen kommen zu mir und beschweren sich über die Fraktionsmacherei, was eben ihre Art ist, Fraktion zu machen, stöhnt ein Dysoniki-Funktionär, der zu vermitteln versucht. Einige Kapitel zuvor hatte Christian mit seinem Vater ein Gespräch über die hoffnungslose Zersplitterung "der Linken" geführt, das in genau die gleiche Richtung ging.

Später werden wir noch ein künstliches Ökosystem in der Atmosphäre des Neptun besuchen, und es wird auch nicht an klassischer SF-Action gespart: vom Kampf gegen Killerroboter über das Erwachen aus dem Kälteschlaf samt Orientierenmüssen in veränderter Umgebung bis hin zur Gewaltorgie im Abschlussteil.

Kommunizierende Gefäße

Zwischen solchen Kapiteln mit Genre-Feeling wechselt der Roman aber auch immer wieder in die Pop-Literatur (etwa wenn Filipa auf einer Party versumpft) und zu essayistischen Betrachtungen über mal dies, mal das. Daths Figuren wirken wie kommunizierende Gefäße, durch die jederzeit Unmengen von Theoremen, politischen Thesen und popkulturellen Assoziationen strömen: gerade war's noch ein Songtext von Whitney Houston, unmittelbar gefolgt von Betrachtungen zu Nichtgleichgewichtsphasenübergängen und dergleichen. Es gibt kein Thema, zu dem Daths unendlich geschwätzige Figuren nichts zu sagen hätten.

"Neptunation" hat mich im Mittelteil verloren: dann nämlich, wenn die Expeditionsmitglieder auf ihrem weitgehend ereignislosen Flug zum Asteroidengürtel über Musik und Science-Fiction-Filme schwadronieren, bis die Kühe nach Hause kommen. Das liest sich beispielsweise so:

Es bleibt bei der gemeinsamen Freude an Elektronik zwischen Octo Octas Between two Selves oder BTSTU von Jai Paul – der "Zwei-Frauen-Musik-Club" freut sich an Howlin' Wolf (Liz kennt den von Max, Filipa von ihrer Großmutter) und Pristine, an Miley Cyrus ("But I prefer the two albums before she became a superstar; before Bangers, that is – Can't be tamed and The Time of Our Lives, these are just fantastic", sagt Liz) oder Lorde ("die Zweite ist noch schöner als die Erste, auch wenn alle immer das Gegenteil behaupten, aber auf der Ersten ist nichts drauf, was dir so das Herz auseinanderrupft wie dieses 'Liability'", Filipa), japanischen Mädchen-E-Gitarren-Operettenkrach von Ladybaby, Babymetal und Supercell ("Zigaexperientia is the best outer space record ever to be played in actual outer space", Liz), Gitarrenmehrkanalpfeifkratzen von Animals As Leaders, Primaner-Hip-Hop von den Beastie Boys, europäischen Retro-Dudelrock von Dool oder The Devil's Blood, kurz ...

[An dieser Stelle ist eine Atempause fällig]

Ein Punkt, in dem Dath wirklich niemand – zumindest nicht in der Science Fiction – das Wasser reichen kann, ist die sprachliche Präzision. Die geht freilich so weit, dass sie auch berücksichtigt, dass gesprochene Sprache eben nicht präzise ist, sondern schlampig. Es wimmelt hier in den Gesprächen nur so vor unvollständig bleibenden Sätzen sowie abgebrochenen und neuangefangenen Satzkonstruktionen. Was sehr realitätsnah, auf Dauer aber auch erstaunlich nervig zu lesen ist. Noch einmal zugespitzt durch den Umstand, dass sich die internationale Crew seitenlang in einer strapaziösen Mischung aus Deutsch, Englisch und Denglish ergeht. Und nachdem der Roman nun mal zu weiten Teilen aus Dialogen und Monologen besteht, fällt jede Erschwernis natürlich entsprechend ins Gewicht.

Der langen Rede kurzer Sinn: Nach etwa einem Drittel war meine Konzentration perdu, und ohne Konzentration kann man Dath nicht lesen; für den Rest des Buchs war's eher ein Registrieren, was passiert. Der Effekt ist freilich nicht neu, ich kenne ihn schon von einigen ähnlich ab- und ausschweifenden Werken Kim Stanley Robinsons oder Hao Jingfangs. Wer die mochte, wird auch hier auf seine Kosten kommen – außerdem steckt in Daths Sprache mehr Leben als in den beiden zusammen, das sollte auch nicht unterschlagen bleiben. Gesamteindruck: "Neptunation" ist eines dieser Bücher, die man eher respektiert als liebt.