Wir müssen die Werte der Aufklärung in das Digitale übertragen, mahnt Daniel Löcker, Wissenschaftsreferent der Stadt Wien, im Gastkommentar.

Der technologische Wandel, in dem wir uns weltweit befinden, ist rasant, der sogenannte Fortschritt verdoppelt sich alle zwei Jahre. Spätestens seit der Einführung von Apples Smartphone ist die unaufhaltsame Digitalisierung für alle Menschen sichtbar und nutzbar. Der Einfluss von künstlicher Intelligenz ist beachtlich, denken wir nur an Gesundheitssystem, Versicherungswesen, Kreditvergaben, den Verkehr, die Sicherheit, den Klimaschutz. Doch wer bestimmt die Regeln, und wer programmiert die Algorithmen, die hinter all dem stehen?

Die Aussage des Erfinders des Internets, Tim Berners-Lee, "The system is failing", besagt eigentlich alles. Experten der IT-Branche wollen nicht, dass wir in eine Welt geraten, in der gesellschaftliche und somit auch politische Steuerungsfähigkeit von Konzernen übernommen wird. Unterwerfen wir uns blind der digitalen Welle? Also Amazon, Google, Facebook und anderen, bei denen wir inzwischen mehr oder weniger in unserem Konsumverhalten alle Rechte abgeben. Oder nützen wir die digitalen Möglichkeiten, um uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln? Und wenn ja, wohin?

Drei Modelle

Derzeit gibt es am Markt drei Modelle, wie man mit dieser Entwicklung umgehen kann. Erster Weg: China. Hier greift ein staatspolitischer Ansatz, das Social-Credit-System ist bereits Wirklichkeit, geordneter Wohlstand ohne Demokratie – nein, danke. Zweiter Weg: Silicon Valley. Möglichst kein Staat, nach der Philosophie, alles in Nullen und Einsen zu übersetzen, ohne Rücksicht auf den Verlust des Menschlichen. Es zählen vor allem Gewinne und die Vermeidung von Steuern – nein, danke. Dritter Weg: das europäische Modell. Also der Mensch im Mittelpunkt und eine vertrauenswürdige künstliche Intelligenz. Die Werte der Aufklärung sind weiter unser Bezugsrahmen. Der Mensch in Würde und gleich an Rechten geboren, aber auch mit Pflichten als Bürgerin und Bürger. Dabei macht der digitale Humanismus den gewissen Unterschied. Technologie soll uns nicht versklaven, skandieren Wissenschaft und Kunst in zwei vielbeachteten Manifesten unter Beteiligung der Stadt Wien, sondern uns dienen. Sie soll uns helfen, besser mit anderen zusammenzuleben.

Werte der Aufklärung

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Nach welchen Werten "lebt" Roboter Sophia?
Foto: Reuters / Darrin Zammit Lupi

Digitaler Humanismus ist also der Transporter der Werte der Aufklärung in eine digitale Zukunft. Und somit der wichtigsten Elemente staatspolitischer Verfassungen. Technologie wird zum Wohle und nicht zum Schaden der Menschheit genutzt. Dies veranschaulicht das "magische Dreieck der Zukunft" (Christoph Thun-Hohenstein in den Beiträgen zur Vienna Biennale 2017 und 2019) Klimawandel, Digitalisierung und soziale Nachhaltigkeit: Klimawandel und die damit verbundenen Maßnahmen des Menschen, den Planeten zu schützen, Digitalisierung als Motor und die Frage nach einer sozialen Nachhaltigkeit, einem gelungenen Zusammenleben in völlig neuen Arbeits- und Lebenswelten.

Es geht dabei auch um den Beitrag der Politik für Gleichheit und Gerechtigkeit, für eine ökologische Entwicklung und für eine Digitalisierung mit einer Bremse hinsichtlich der negativen Effekte reiner Profitorientierung. "Das Schicksal der Menschheit", so Thun-Hohenstein, "wird sich auch in der Nutzung der positiven Potenziale von künstlicher Intelligenz entscheiden. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, mit welchem Menschenbild künstliche Intelligenz zu tun haben wird." "Change! The system is failing!", schlagen die Computerwissenschafter Alarm, sie rufen nach den Umwelthistorikerinnen, Ethikern, Soziologinnen und Philosophen, und warum? Damit die Technik nicht sich selbst überlassen bleibt.

Digitaler Super-GAU

Ein konkretes Beispiel wäre der Algorithmus für die Programmierung von selbstfahrenden Autos. Im Fall eines Unfalls vor die Wahl gestellt, in eine Gruppe von Jugendlichen oder von Pensionisten zu fahren, entscheidet die künstliche Intelligenz – anders als der Mensch – basierend auf einem früher erstellten Algorithmus. Doch nach welchen rechtlichen, ethischen oder sonstigen Normen wird dies vorgenommen?

Die Professorin für Internetökonomie und Technikgestaltung an der WU Wien, Sarah Spiekermann, dazu: "Die Hoffnung, dass wir durch Bewusstseinsbildung die Entwicklung der Technik auf die Basis von Werten stellen, ist die letzte Ausfahrt vor dem Super-GAU." Es geht also um die Grundlagen von Algorithmen und die Folgenabschätzung, und darum, wie die zentralen europäischen Werte der Aufklärung, verkürzt mit dem Wort Humanismus, in die digitale Welt eindringen. Digitaler Humanismus ist also ein Vorschlag für eine Haltung zu einer digitalen Zukunft.

Wiener Weg

Und was hat das nun alles mit Wien zu tun? Wien war immer schon eine Stadt der Moderne, hier wurden Entwürfe zur Veränderung der Welt verhandelt, auch durch eine blühende Wissenschafts- und Kulturlandschaft, zumindest bis zur Katastrophe 1938. Nun geht es darum, neue Brücken zu schlagen – zwischen digitalen Anwendungen und den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Unter der Dachmarke digitaler Humanismus werden derzeit von der Stadt Wien Ideen und Projektvorhaben unterstützt, die diese weiter festigen und neue Bausteine dazu liefern können. Die Wiener Stadträtin für Kultur und Wissenschaft lobte im Sommer einen Call zu diesem Thema aus. Dieser erste Anstoß löste bereits eine breite Reaktion aus. Denn Wien darf sich diesen Entwicklungen nicht verschließen, das Thema des digitalen Humanismus hat das Potenzial, als "Wiener Weg" identitätsstiftend zu werden. (Daniel Löcker, 13.11.2019)