Als Frankreich Mitte Oktober gegen den Beginn der EU-Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien ein Veto einlegte, kam Kritik von allen Seiten auf. Neben hochrangigen EU-Vertretern machten auch führende Politiker zahlreicher Mitgliedsstaaten ihrem Unmut über die Entscheidung Luft. Letztlich hat Frankreich den EU-Erweiterungsprozess infrage gestellt, da Präsident Emmanuel Macron sich auch für eine strategische Partnerschaft der Region mit der EU und nicht mehr für eine klare Beitrittsperspektive aussprach. Es war jedoch der Beitrittsprozess, der von der EU in Thessaloniki 2003 versprochen wurde und ein wichtiger Reformmotor in der Region war. Auch wenn die sechs Länder des Westbalkans ihre Beziehungen zur EU neu überdenken müssen beziehungsweise neue Wege zur EU finden müssen, ist es lediglich ein Kapitel der Beziehungen zwischen dem Südosten Europas und den Zentren, die meist im Westen lagen. Die Ereignisse bieten die Gelegenheit, über die historischen Dimensionen der Beziehungen und Verflechtungen zu reflektieren.

Im südöstlichen Europa treffen zwei Europäisierungen aufeinander, die bisher kaum im Dialog zueinander standen: Die eine Europäisierung ist ein langfristiger Prozess, in dem verschiedenste Modelle aus dem europäischen Zentrum in Ländern der europäischen Peripherie übernommen werden. Die andere Europäisierung bezieht sich allein auf den Prozess der Angleichung an die Regeln der Europäischen Union in den vergangenen Jahrzehnten.

Die Herausforderungen der Europäisierung des letzten Vierteljahrhunderts werden durch die historische Kontextualisierung deutlicher, während die Annäherung der Verwendung der beiden Begriffe den Wandel und die Kontinuitäten in diesem Prozess hervorstreichen kann.

Europäisierung und die EU

Europäisierung wird heute fast ausschließlich im Kontext des Beitrittsprozesses der Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zur EU verstanden. Auch wenn der Begriff "EU-isierung" passender wäre, ist der Begriff nicht griffig, und die Anlehnung an länger andauernde Europäisierungsprozesse ist, wie zu zeigen sein wird, durchaus produktiv. Im Kontext der EU beschreibt Europäisierung die Übernahme des Rechtsbestandes der Union in den zukünftigen Mitgliedsstaaten sowie die damit verbundenen Normen und Handlungsweisen politischer Eliten und Institutionen.

Der Begriff der Europäisierung in seinen verschiedenen Ausprägungen fand erst ab den 1990er-Jahren weite Verwendung, als sich der EU-Erweiterungsprozess grundsätzlich neu aufstellte: Anders als bei der Erweiterungsrunde von 1995 (Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens) stand danach eine sehr viel umfassendere Erweiterung bevor, zunächst mit zwölf Staaten, die zwischen 2004 und 2007 beitraten, und dann aus dem westlichen Balkan. Wichtiger als die große Zahl der neuen Mitglieder war die historische Erfahrung der Staaten, die über Jahrzehnte autoritär beziehungsweise totalitär beherrscht worden waren und nach 1989 gleichzeitig mehrfache Transformationsprozesse durchliefen. Der Beitrittsprozess bedeutete somit nicht nur die Anpassung an die Rechtsnormen der EU, verknüpft mit der politischen Bekundung zur Union, sondern erforderte auch eine sehr viel komplexere Transformation, die alle Bereiche des politischen Systems umfasste. Zugleich wurde der Beitrittsprozess zur EU in den Staaten mit einer "Rückkehr nach Europa" gleichgesetzt.

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Der Begriff der Europäisierung umschreibt somit nicht nur den Prozess der Übernahme von Regeln durch externen Druck oder Anreize, sondern auch durch Sozialisierungsprozesse, das heißt, durch die Akzeptanz von Regeln als eigene.

Insbesondere bei Beitrittskandidaten, die noch nicht an der Konstruktion von Regeln und Prozeduren teilhaben (können), ist diese Art von Europäisierung weitgehend einseitig, geprägt durch die Übernahme der Regeln, ohne Einfluss auf deren Inhalt zu haben. Durch den intensiven Austausch politischer Eliten und Verwaltung sollte der Prozess der Erweiterung zu einer Annäherung an die Normen führen, die sich aus dem komplexen Regelwerk der EU ergeben.

Was bedeutet "Europa" in diesem Kontext? Ist Europa nur der geografische Rahmen für gemeinsame Werte und Regeln, oder ist Europa auch ein Wert für sich und daher eine in dem Begriff inkludierte Orientierung? Kann man "europäisiert" werden und doch die Europäische Integration ablehnen? Diese Ambivalenz weißt auf die Schwierigkeiten des Begriffs hin. Neben der geografischen Definition für die mit dem Begriff umschriebenen Prozesse kommt es auch zur Vernachlässigung der Rolle der europäischen Identität als eines potenziellen Bestandteils. Die Krisen der EU und des Erweiterungsprozesses der vergangenen Jahre haben diese Widersprüche der Europäisierung deutlich werden lassen.

Europäisierung der Krise

Europäisierung beruht auf der Idee der Transformation, die, wenn sie auch nicht gänzlich abgeschlossen werden kann, einen zumindest formalen Endpunkt besitzt: die EU-Mitgliedschaft. Die Staaten des westlichen Balkans als Noch-nicht-Mitgliedsstaaten innerhalb Südosteuropas sind bereits seit 28 Jahren in einem Transformationsprozess, der kein Ende zu haben scheint und dessen Ende stetig in die Zukunft rückt, nicht zuletzt seit Frankreichs Veto gegen die Verhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien im Oktober.

Eine der Kernideen der Europäisierung ist die Konvergenz. Auch wenn jene meist in Verbindung mit Finanz- und Wirtschaftsfragen verwendet wird, kann sie auch in anderen Bereichen gebraucht werden – bei der Angleichung von Lebensstandards und demokratischen Herrschaftsformen und bei der Rechtsstaatlichkeit. Hier ist der Europäisierungsprozess in einer tiefen Krise: Die wirtschaftliche Konvergenz wurde infolge der Finanz-, Euro- und Wirtschaftskrisen seit 2008 in Frage gestellt. Diese Krisen haben die Staaten der europäischen Peripherie nicht nur stärker als jene im Zentrum getroffen, sondern es sind auch die Vorbilder für die Staaten des westlichen Balkans weggebrochen, wie Griechenland zum Beispiel. Das Aufkommen populistischer Parteien innerhalb der EU, und die Regierungsübernahme national-konservativer Parteien, die die liberaldemokratische Regierungsform ausdrücklich ablehnen, wie Ungarn ab 2010 und Polen seit 2015, hat die demokratische Konvergenz ist in Frage gestellt.

Die Krisenhaftigkeit der EU hat den Erweiterungsprozess verlangsamt und auch die Glaubwürdigkeit realer Beitrittsperspektiven infrage gestellt: Es steht nicht nur die Fähigkeit der EU in Zweifel, in Anbetracht der eigenen Schwierigkeiten neue Mitglieder aufzunehmen, sondern auch die Bereitschaft zahlreicher Mitgliedsstaaten ist gesunken, einer Erweiterung zuzustimmen.

Auf dem westlichen Balkan stehen dieser Krise Eliten gegenüber, die sich formal zur Europäisierung bekennen, jedoch nicht nach diesen Werten regieren: Sie bekennen sich zur formalen Europäisierung, lehnen jedoch die Substanz, insbesondere Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, ab. Hiermit setzt sich der Europäisierungsprozess auf dem westlichen Balkan formal zwar fort, doch wird er von Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten informell in Frage gestellt beziehungsweise sinnentleert.

Die lange Geschichte der Europäisierung

Jenseits der derzeitigen Krise hat der Europäisierungsbegriff in Südosteuropa eine lange Vorgeschichte, denn dieser Prozess – auch wenn Begriffe wie "Modernisierung" oder "Verwestlichung" gebraucht wurden – geht zumindest ins 19. Jahrhundert zurück. Südosteuropa stellt hier keine Ausnahme dar: Seit dem Beginn der westeuropäischen Dominanz mittels wirtschaftlicher und kolonialer Strukturen ab dem 15. Jahrhundert war "Europäisierung" global. Eine solche Europäisierung entsprach stets einer "Westeuropäisierung", bestimmt von den Modellen westeuropäischer Reiche und späterer Nationalstaaten. Diese Anpassung an die europäische Hegemonie erfolgte meist zwangsweise, teils freiwillig, um der Dominanz der europäischen Kolonialmächte zu entgehen. Diese Europäisierungsprozesse dienten auch dazu, der vermeintlichen und tatsächlichen Unterentwicklung zu entkommen. Somit begann der Prozess der Europäisierung in Südosteuropa schon zur Zeit des Osmanischen Reiches. Später übernahmen die neuen Nationalstaaten in Südosteuropa diese Westorientierung und suchten sich europäische Schutzmächte. Diese Prozesse vom Wandel durch die Imitation und Aneignung von externen Erfahrungen, Erscheinungsformen und Institutionen waren stets umstritten und hatte ihre Kritiker. Einige Kritiker lehnten sie als nicht authentisch und oktroyiert ab, andere monierten die oberflächliche Imitation externer Modelle, die die Substanz jedoch unberührt ließen. Nicht zufällig unterliegt dem erwähnten Begriff "alafranga", also der Übernahme westlicher Elemente von Kultur, der Kopie, ein negativer Kontext.

Neben den Formen Staat, Nation und Staatsbürgerschaft kamen aus Westeuropa im 19. und 20. Jahrhundert Verfassungen, Gesetze und Institutionen nach Südosteuropa. Die liberale belgische Verfassung diente als Vorbild für die rumänische Verfassung von 1866, und das Schweizer Zivilgesetzbuch wurde 1926 von Atatürk für die Türkei übernommen. Diese Transfers stießen jedoch an Grenzen, die ihnen von den Eliten selbst gesetzt wurden. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, diesen Transfer auf den Fluss liberaler und demokratischer Ideen zu reduzieren, denn in der Zwischenkriegszeit gab es auch eine Übertragung autoritärer und totalitärer Ideen, insbesondere zunächst aus dem faschistischen Italien und später aus dem nationalsozialistischen Deutschland.

In der Zeit des Kalten Krieges entstand erstmals der Versuch einer vom Westen losgelösten Modernisierung. Mit Ausnahme Jugoslawiens war es jedoch kein eigener Weg zur Modernität, sondern ein von der Sowjetunion bestimmter Transfer, der nicht weniger hierarchisch und einseitig verlief als frühere Prozesse. Das sozialistische Jugoslawien hingegen versuchte einen eigenen Modernisierungspfad zu finden.

Aus dieser Perspektive ist die Europäisierung nach 1989/91 in Südosteuropa kein neuer Prozess, sondern nur eine Fortführung etablierter Transferdynamiken, die ihren Ausgang weit vor der EU-Erweiterung gehabt haben. Diese Feststellung soll jedoch nicht bedeuten, dass der Prozess nach 1989/91 nicht auch neue Züge trage. Die wohl entscheidende Unterscheidung ist das Konvergenzversprechen. Mit dem Beitritt zur EU besteht die Perspektive, dass die Mitgliedschaft das hierarchische, einseitige Transferverhältnis auflöst; hiermit wertet die Mitgliedschaft die Souveränität der Staaten auf, deren historische Erfahrung von Staatlichkeit durch formale Souveränität und Unterordnung im europäischen Kontext geprägt ist. Zugleich zeichnet sich der Beitrittsprozess selbst durch historisch verwurzelte Zentrum-Peripherie-Beziehungen aus. Die eingeschränkte Gestaltungsfähigkeit und die Übernahme von Gesetzen, Institution und Praktiken in diesem Prozess sind Wiederholungen früherer Transfer- beziehungsweise Aufholprozesse.

Vor diesem Hintergrund erscheint die jüngste Phase des Europäisierungsprozesses in einem anderen Licht und ist weder ein Novum noch wahrscheinlich der Schlusspunkt dieses Prozesses. Der Europäisierungsprozess ist nicht nur das "Herunterladen" von Gesetzen oder Institutionen, sondern ist auch durch die Anpassung an den spezifischen regionalen Kontext geprägt. Durch Adaption und Umsetzung verändern sich die Inhalte, und genauso, wie das Schweizer Zivilgesetzbuch in der Türkei anders funktioniert als in seinem Ursprungsland, wirken auch die Regeln der Europäischen Union anders. Während dies in manchen Fällen zu "Potemkin'schen Reformdörfern" führen mag, besteht ein noch unzureichendes Verständnis für diese Prozesse, wodurch hybride, aber neue Formen von Herrschaft entstehen. Europäisierung ist somit nicht nur ein einseitiger Transfer von einer Region namens "Europa" in eine andere oder die Übernahme von bestimmten europäischen Normen, Institutionen und Praktiken, sondern eine historisch gewachsene und komplexe Beziehungsgeschichte, die auch innerhalb der Region Südosteuropa seit zwei Jahrhunderten regelmäßig neu ausverhandelt wird. (Florian Bieber, 18.11.2019)