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Im Übergang von der Kita zu Schule fängt es damit an, dass Jungs in den Naturwissenschaften besser seien, während als einziger Bereich, in dem Mädchen gut sind, der Fürsorgebereich gilt, sagt Sascha Verlan.

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Sascha Verlan und Almut Schnerring befassen sich mit Gendermarketing und der Zweiteilung der Kinderwelt.

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Eine Kindheit ohne Rollenklischees ist trotz vieler Fortschritte bei der Gleichberechtigung von Männern und Frauen bis heute kaum möglich. Zu den traditionellen Vorstellungen, wie Buben und Mädchen zu sein hätten, kommen aktuell der erfolgreiche Aufstieg des Gendermarketings und mediale Entwicklungen hinzu, die Geschlechterstereotype zusätzlich verstärken, sagt Sascha Verlan ("Die Rosa-Hellblau-Falle"). Er hält Vorträge und Workshops über Möglichkeiten eines genderreflektierten Umgangs mit Kindern, etwa kommende Woche in Wien bei der Veranstaltung "Kindheit ohne Rollenklischees", die die Elterngruppe "kigebe – Kinder gendersensibel begleiten" gemeinsam mit dem Verein Checkpot und in Kooperation mit der MA 57 veranstaltet.

DER STANDARD: Sie sagen, der Gender-Pay-Gap und Alltagssexismus beginnen schon im Kinderzimmer daheim und im Kindergarten. Wie?

Verlan: Umfragen zeigen, dass Buben im Durchschnitt mehr Taschengeld bekommen, und dass Mädchen dafür von Anfang an mehr in die Familien- und Hausarbeit eingebunden werden. So wird Mädchen beigebracht, für welchen Bereich sie Verantwortung übernehmen sollen, und die Buben lernen, wo sie sich raushalten sollen und nicht zuständig sind.

Aber im Grunde muss man da anfangen, dass Mädchen nicht mehr als Schimpfwort taugt. Da fängt die Herabsetzung von Mädchen spätestens an. In der Erwachsenenwelt läuft das unter "Gender Status Beliefs", also dass viele der Meinung sind, dass Männer für die wichtigen Entscheidungspositionen besser geeignet seien. Bei kleineren Kindern unter fünf Jahren ist das erst noch nicht so. Es beginnt aber im Übergang zur Schule, dass Kinder glauben, Buben seien grundsätzlich besser in ganz vielem, im Rechnen, in den Naturwissenschaften, und Mädchen sich weniger zutrauen. Für sie bleibt als einziger Bereich die Care-Arbeit, das sich Kümmern und pflegen. Wir haben es noch nicht auf dem Schirm, dass die Verteilung, die wir in der Erwachsenenwelt haben eine historisch gewachsene ist und dass sie sich mit jedem neuen Jahrgang reproduziert. Deshalb müssen wir schauen, dass Mädchen ihr Selbstbewusstsein nicht verlieren während viele Jungs mit fünf schon glauben, dass sie der Überflieger sind.

DER STANDARD: Es heißt aber oft, dass Buben durch die herrschenden pädagogischen Strukturen mit vorwiegend Pädagoginnen die eigentlichen Verlierer sind. Ihnen würden die männlichen Vorbilder fehlen. Dass männliche Pädagogen fehlen, kann man doch nicht bestreiten, oder?

Verlan: Das Thema, dass die Jungs die Bildungsverlierer sind und von den Mädchen überholt werden, ist sehr alt. Es gab im Jahr 1970 schon eine große Titelgeschichte im "Spiegel" dazu, das ist also ein 50 Jahre alter Diskurs. Ich selbst wurde 1969 geboren und bin somit in einer Generation, in der jetzt die Männer in wichtigen Positionen sitzen. Es ist also nichts davon zu spüren, dass wir quasi die erste Generation der Bildungsverlierer wären. Die Machtverhältnisse sehen absolut nicht danach aus. Und: Das, was sich verändert hat, hat nichts mit Bildung zu tun, sondern mit dem unaufhörlichen Kampf der Frauen um ihre Positionen. Ich halte diesen Diskurs für vorgeschoben. Es hakt vor allem daran, dass Studien etwas anderes sagen, etwa dass Jungs viel mehr Aufmerksamkeit in der Schule einfordern und auch bekommen. Und selbst wenn sie die schlechteren Abschlüsse machen, bekommen sie später die besser bezahlten Posten. Bei diesem Bildungsverliererdiskurs schwingt auch mit, dass Buben unbedingt männliche Vorbilder bräuchten.

DER STANDARD: Brauchen sie nicht?

Verlan: Ich denke, dass Kinder aller Geschlechter Vorbilder aller Geschlechter brauchen. Es ist zwar ein Problem, dass so wenige Männer im Elementarbereich arbeiten, aber das ist ein gesellschaftliches Problem und keines speziell für die Buben. Mit der Abwertung von Mädchen geht einher, dass Buben nicht lernen, dass Frauen auch für sie Vorbilder sein könnten. Sie haben in allen Büchern und Filmen immer männliche Figuren, die ihnen als Identifikationsmöglichkeit angeboten werden. Sie müssen nie in Erwägung ziehen, dass auch Frauen vorbildhaft sind, denn Bücher mit weiblichen Hauptrollen werden meist als "Mädchenbücher" vermarktet. Wenn sie das aber erleben würden, hätten sie gar kein Problem mehr mit fehlenden männlichen Vorbildern. Abgesehen davon ist doch jede Lehrerin unterschiedlich – etwa in ihrer Art der Kommunikation, ihren Interessen, wie sie mit Kindern umgeht –, dass es keine große Rolle mehr spielt, ob da ein Mann ist oder nicht. Hätten wir Gleichwertigkeit, hieße das für Kinder, dass da halt ein Mann dazukommt, der wieder anders ist als die vielen anderen Lehrerinnen und Lehrer auch. Aber ohne Männer im Elementarbereich lernen Kindern, dass das Kümmern, das Trösten, das Spielen und Streit schlichten, Frauensache sein muss. Was geben wir ihnen da für ihr Leben als Erwachsene mit?

DER STANDARD: Auf welchem Stand sind Kinderbetreuungseinrichtungen im Umgang mit Rollenklischees?

Verlan: Das lässt sich pauschal nicht sagen. Wir sind in Deutschland und Österreich viel mit Vorträgen und Workshops unterwegs, und es zeigt sich, dass sehr viel vom Team abhängt oder davon, ob eine einzelne Person sagt: Das ist wichtig, und wir sollten da etwas machen. Besser funktioniert es natürlich, wenn diese Person eine Leitungsfunktion hat. Einfach nur auf Rollenklischees zu reagieren, reicht heute aber nicht mehr. Es hat sich in den letzten zehn Jahren so viel verändert, dass die Antworten, die wir einmal gefunden haben, möglicherweise nicht mehr die richtigen sind. Kinder bekommen heute jede Menge stereotype Botschaften über das Frau- bzw. Mannsein vermittelt, es gibt Gendermarketing, Smartphones, Youtube und "Germanys Next Topmodel". Das alles hat nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Deshalb müssen wir heute aktiv gegensteuern, es reicht nicht mehr zu sagen, bei uns in der Kita können die Kinder alles ausprobieren. Die Kinder sind heute, wenn sie in Kinderbetreuungseinrichtungen kommen, schon sehr stark vorgeprägt durch normierende Botschaften und Reglen, womit sie als Buben oder Mädchen angeblich zu spielen und was sie zu mögen haben.

DER STANDARD: Aber kommt das Genderthema nicht vor allem dann auf problematische Weise auf, wenn es um so etwas wie Gruppendynamiken geht?

Verlan: Wenn das Thema einer Familie wichtig ist, werden Genderstereotype tatsächlich oft erst mit der Kinderbetreuung außer Haus ein Thema. Viele Eltern machen sich darüber aber keine Gedanken, und dann beginnt der Einfluss auf Kinder schon davor. Kinder werden immer früher außerhalb der Familie mitbetreut, der Einfluss der Außenwelt fängt somit generell viel früher an, genauso wie die Mediennutzung. Also erreichen auch Werbung und klischeehafte Botschaften die Kinder früher in ihrem Alltag.

DER STANDARD: Heute ist es für viele Eltern selbstverständlich, dass sie schon für ihre Babys nur komplett durchgegenderte Produkte kaufen. Warum funktioniert Gendermarketing so gut?

Verlan: Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche. In der Individualpsychologie und Sozialpsychologie stellte man in der sogenannten Minimalgruppenforschung folgendes fest: Wenn wir eine Gruppe in diese zwei Gruppen teilen, Männer und Frauen – oder Mädchen und Buben -, dann entsteht in beiden Gruppen das Gefühl, sich von der jeweils anderen Gruppe abgrenzen zu müssen. Wenn dieses "wo gehörst du denn dazu?" immer wieder aufgerufen wird, dann entsteht das Bedürfnis sich abzugrenzen, und auch durch Aussehen, Hobbys und Produkte sichtbar und klar zu machen, dass man zu der einen und nicht womöglich zur anderen "falschen" Gruppe gehört. Ich fürchte, dass die Werbung sehr genau weiß, was sie tut.

DER STANDARD: Aber schadet pinkes Mädchen- und blaues Bubenzeug wirklich? Mädchen können ja trotzdem Ingenieurinnen werden, auch wenn sie mit Barbies spielen.

Verlan: Klar können sie das, aber sie müssen dann über die eben beschriebene Grenze hinweg und aushalten, dass ihr Umfeld sie als "anders" einstuft. Und Kinder wollen nicht anders sein, sie wollen dazugehören und die Regeln der Erwachsenen lernen. In unseren Vorträgen und Workshops zeigen wir gern eindrückliche Doppelseiten aus verschiedensten Discounter-Katalogen. Auf der einen Seite ein Bub, auf der anderen Seite ein Mädchen: Sie steht jedes Mal in der Spielküche oder vor einem Puppenhaus, sie spielt "Haushalt". Er spielt dagegen mit einem Bagger, Kran oder macht irgendetwas anderes, actionreiches – seine Spielsachen sind insgesamt vielfältiger. Das prägt natürlich.

DER STANDARD: Was sind die größten Widerstände gegen genderneutrale Erziehung?

Verlan: Wir sprechen nie von genderneutral, denn da steckt schon der Vorwurf drinnen, "ihr wollt ja alle gleich machen", und darum geht es ja eben nicht! Wir sprechen deshalb von geschlechterreflektiert, im Sinn von "denkt darüber nach". Wir haben bei unseren Workshops ein Publikum, das nicht grundsätzlich auf Abwehr eingestellt ist, denn wenn weder Offenheit noch Problembewusstsein da ist, erreichen wir die Leute natürlich auch nicht. Wenn wir bei unseren Veranstaltungen mal zehn Prozent Männer im Publikum haben, dann ist das schon viel. Nur wenn ich allein unterwegs bin und von einem Väternetzwerk eingeladen werden, dann ist es eine reine Männerrunde. Eine wichtige Aufgabe sehe ich deshalb darin, Männern zu vermitteln, welche Vorteile sie selbst und Buben daraus ziehen. Nehmen wir nur die Lebenserwartung: Frauen leben im Durchschnitt fünf Jahre länger. Das hat zwar auch biologische Gründe, aber ein enges, traditionelles Männlichkeitsbild hat den viel größeren Anteil daran, dass Männer sich zum Beispiel ungesünder ernähren, sich oft zu spät medizinisch helfen lassen und eine höhere Risiko- und Gewaltbereitschaft und damit auch mehr Unfälle haben. Es würde sich für Männer lohnen, sich gegen Rollenklischees zu engagieren. (Beate Hausbichler, 17.11.2019)