Die Gletscherschmelze hat tiefgreifende Folgen für den Wasserkreislauf.

Foto: Giovanni Kappenberger

Das Abschmelzen von Gletschern infolge der Erderwärmung schreitet voran, wissenschafter rechnen mit einem enormen Gletscherschwund weltweit in den kommenden Jahrzehnten. Damit gehen nicht nur Naturdenkmäler verloren, sondern auch eine wesentliche Funktion für den Wasserkreislauf. Denn die Eismassen in den Hochgebirgen sind wichtige Wasserspeicher, die Flusssysteme speisen und dabei helfen, den Abfluss saisonal auszugleichen.

Ohne Gletscher würden Flüsse in den Sommermonaten deutlich weniger Wasser führen, was in vielen Regionen der Welt dramatische Konsequenzen für die Wasserverfügbarkeit hätte. Unter Wissenschaftern wird seit längerem diskutiert, ob die schwindende Speicherfunktion der Gletscher mit Stauseen kompensiert werden könnte. Forscher der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft haben nun untersucht, wie groß das Potenzial für Wasserspeicher und Wasserkraft in Gletschergebieten ist, die im Laufe dieses Jahrhunderts eisfrei werden.

Globales Gletscherinventar

In ihrer Studie im Fachblatt "Nature" analysierten Daniel Farinotti und Kollegen Daten eines globalen Inventars zu rund 185.000 Gletschern. Für diese Standorte errechneten sie ein maximales, theoretisches Gesamt-Speicherpotenzial von 875 Kubikkilometern und ein maximales theoretisches Wasserkraftpotenzial von insgesamt 1350 Terawattstunden (TWh) pro Jahr. "Dieses theoretische Gesamtpotenzial entspricht etwa einem Drittel der heutigen, weltweiten Wasserkraftproduktion. Doch nur ein Teil davon wäre tatsächlich realisierbar", sagte Farinotti.

Um eine realistischere Einschätzung zu erhalten, unterzogen die Wissenschafter die Standorte einer ersten Eignungsprüfung. Dabei ließen sie ökologische, technische und wirtschaftliche Kriterien einfließen – etwa die Frage, ob der Bau einer Staumauer in einem bestimmten Gebiet überhaupt möglich und wünschenswert wäre. Auf diese Weise identifizierten sie rund 40 Prozent des theoretischen Gesamtpotenzials als "möglicherweise" geeignet, was einem Speichervolumen von 355 Kubikkilometern und einem Wasserkraftpotenzial von 533 TWh pro Jahr gleichkommt. Letzteres entspricht rund 13 Prozent der heutigen, weltweiten Wasserkraftproduktion.

Lokale Auswirkungen

"Dieses potenziell geeignete Speichervolumen würde bereits ausreichen, um etwa die Hälfte des jährlichen Abflusses aus den untersuchten Gletschereinzugsgebieten zurückzuhalten", so Farinotti. Der Forscher betont aber, dass die lokalen Auswirkungen von Fall zu Fall bewertet werden müssten. Seiner Ansicht nach deuten die Ergebnisse aber darauf hin, dass eisfreie Gletscherbecken in einer Reihe von Ländern, insbesondere im Hochgebirge Asiens, wichtige Beiträge zur Energieversorgung und zur zwischenzeitlichen Speicherung von Wasser leisten könnten. (red, 14.11.2019)