Vom Steak-Ausfahrer zur rechten Hand eines Gewerkschaftsbosses: Robert de Niro als Frank Sheeran und Al Pacino als Jimmy Hoffa in "The Irishman"

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Amphibie Als amphibischen Film bezeichnet die Theorie Produktionen, die Fernsehen und Kino gleichermaßen anpeilen. Das wirkt sich nolens volens auch auf ihre Form aus, die beide Medien verinnerlicht. Martin Scorseses The Irishman ist das bisher stattlichste Exemplar dieser Gattung. Mit dreieinhalb Stunden Laufzeit ist er zugleich Monumental(kino)film wie ein Netflix-Streamingkoloss, den man nach Belieben filetieren kann. Der US-Regisseur gilt zwar wie kaum ein anderer der New-Hollywood-Generation als Cinephiler, dennoch zielt sein jüngster Film im Grunde schon übers Kino hinaus (mindestens zwei Wochen hat man nun dennoch die Chance, ihn ebendort zu sehen). Episch über die Jahrzehnte aufgefächert, von Thelma Schoonmaker, Scorseses bewährter Cutterin, bravourös im Midtempo montiert, schmiegt sich der Film mit Nahaufnahmen und Halbtotalen auch an die kleine Leinwand an. Der visuelle Überschwang, den man mit Scorsese ansonsten gerne verbindet, weicht mehr der Konzentration auf Charaktere.

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De-Aging Seit der Kleingangster Johnny Boy in Mean Streets (1973) seinen Monolog über Schulden und seine neue Krawatte anstimmte, sind die die Filmografien von Scorsese und Robert De Niro eng verwoben. Für The Irishman hat der Regisseur sein Stammschauspielerfeld (De Niro, Joe Pesci, Harvey Keitel plus Neuzugang Al Pacino, alle 76 oder älter) einem digitalen Verjüngungsprozess unterzogen, der in den irritierenderen Momenten an Animationen in Robert-Zemeckis-Filmen denken lässt. Die Geste ist klar: Die Haudegen drehen eine Ehrenrunde im Kino, wo sie ohnehin für immer alterslos bleiben. Und doch ist manches anders. De Niro hat im Titelhelden Frank Sheeran, den wir erstmals in den 1950er-Jahren kennenlernen, einen verhaltenen, fast devoten Part: Er verkörpert den Inbegriff von Loyalität. Das Exaltierte seines Spiels, das so oft dem Streben nach Geltung und Macht als gewaltvolles Spektakel Ausdruck verliehen hat, ist merklich gedämpft. Wenn Sheeran Leute abknallt – und das tut dieser pflichtbewusste Handlanger oft –, dann schießt er fast verschämt aus kürzester Distanz in Gesichter.

Gewissen Das ist natürlich ein Fremdwort für Mafiosi. Der Priester, der den tattrigen Frank Sheeran am Ende befragt, wird nicht viel aus ihm her ausbekommen. Und doch ist The Irishman in seiner ganzen Anlage eine lange Lebensbeichte – je mehr Zeit vergeht, desto höher wird nicht nur die Zahl der Opfer, desto öfter begeht man auch einen Verrat. Aus zwei ineinander verschachtelten Rückblenden entspringen die Episoden, die uns den Werdegang eines Gangsters näherbringen, der vom Steak-Lieferanten allmählich zum Vertrauensmann des mächtigen Gewerkschaftsbosses Jimmy Hoffa (Pacino) aufsteigt. Wiederholt macht sich Scorsese zwar selbst lustig über die Usancen der Cosa Nostra – den übertriebenen Hang zum Prinzipiellen oder dass hier jeder zweite "Tony" heißt. Am Ende dominieren dann doch Melancholie und Bitterkeit. Der leicht einfältige Sheeran glaubt an aufrichtige Freundschaft, an einen Rest von Raison, an seinen Schutzengel Russ Bufalino (Pesci) – wo in Wahrheit nur der Wille zum Machterhalt regiert. Und der stille, missbilligende Blick seiner Tochter Peggy (Anna Paquin) verfolgt ihn bis ins Grab.

Als John F. Kennedy ermordet wird, steht kurz alles still: Robert De Niro, Al Pacino u. a. in Martin Scorseses "The Irishman".
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Mobsterpolitik Scorseses Mafiafilme betrachten stets auch ein Stück amerikanische Geschichte durch das Prisma des Verbrechertums. Casino beispielsweise war als Parabel des enthemmten Kapitalismus ganz auf die rauschhafte Goldgräberstimmung in Las Vegas gemünzt; in The Irishman findet sich dazu noch eine interessante Nebenepisode. Denn die Mobster werden bei Hoffa selbst vorstellig, um sich ein Darlehen für eine weitere Casino-Expansion abzuholen – und zwar aus dem Budget der Pensionsfonds. Politik, Wirtschaft und Kriminalität bleiben eng aufeinander abgestimmt, vor allem die Kennedys sind diesmal als prominente Zaungäste zugegen, denen das erhoffte Geschenk an die Mafia, die Insel Kuba, aus den Händen rutscht. Als Hoffa aufgrund der Ermittlungen von JFKs Bruder Bobby in Rage gerät, erhärtet sich ein Eindruck: The Irishman scheint wie ein Abgesang auf einen dominanten Männertypus, der sich keinen Millimeter vom eroberten Terrain wegbewegt. Bis es dann die Geschichte erledigt.

Wände I Heard You Paint Houses – so der Titel der Sachbuchvorlage von Charles Brandt. Im Film fällt der Satz gleich zu Beginn einmal – im nächsten Moment spritzt Blut auf die Mauer. Doch die Gewalt explodiert in The Irishman eher im Off der Bilder oder so schnell, dass man es leicht verpassen kann. An der Wand stehen dennoch alle, im sprichwörtlichen Sinn. Bei den meisten Figuren lässt uns der Film schon beim ersten Auftritt Todesart und -zeitpunkt wissen. Die Selbstsicherheit, mit der sie sich geben, ist eitle Zier. Nur der, der lange genug lebt, geht wieder in die Kirche. Oder lässt die Tür einen Spalt weit offen. (Dominik Kamalzadeh, 15.11.2019)