Erhard Stackl bereiste für "Profil" und STANDARD viele Jahre lang den ehemaligen Ostblock. Im Gastkommentar erinnert er sich an die Novembertage 1989 in Prag. Lesen Sie zum Wendejahr 1989 auch Gastbeiträge von Berthold Molden, Helfried Carl, Mark Leonard, Goran Buldioski, Heiko Maas und Helmut Brandstätter sowie Kolumnen von Barbara Coudenhove-Kalergi und Paul Lendvai.

Diesen Klang vergesse ich nie: In der Abenddämmerung eines Novembertags ließen im Menschenmeer auf dem Prager Wenzelsplatz viele Hundert ihre Hausschlüssel an hochgestreckten Armen aneinanderschlagen. „Štepán, Štepán“ rief die Menge zum Gebimmel dieser Totenglocken, als würde sie nach Art des Jedermann den verhassten Prager KP-Chef Miroslav Štepán von der weltlichen Macht abberufen.

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Mit ihren Schlüsselbünden läuteten hunderttausende Menschen in den Novembertagen 1989 in Prag die Wende ein.
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Gegen Jahresende 1989 traf der Sturm der Wende auch die besonders sturen Parteifunktionäre der ČSSR. Hatten die Polen schon im Juni die ersten halbwegs freien Wahlen abgehalten, die Ungarn im Sommer den Eisernen Vorhang durchlöchert und die Ostberliner am 9. November friedlich die Mauer durchbrochen, so feierten die Tschechen und Slowaken nun ihre Samtene Revolution. Die Freiheit war greifbar nah.

Wirtschaftliche Aufholjagd

Im Prager Prognoseinstitut, das staatlich war, aber gewisse Freiräume besaß, dachten Wirtschaftsexperten schon über die Zeit nach der Wende nach. Wann werden wir wirtschaftlich mit einem Land wie Österreich gleichziehen, es gar überholen?, fragten sie sich. Spätestens bis zur Jahrtausendwende sollte das zu schaffen sein, meinten die Prager Prognostiker damals.

2018 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Tschechien 23.100 Dollar, in der Slowakei 19.500 (Ungarn: 16.500, Polen 15.500 Dollar). In Österreich stand das BIP pro Kopf dagegen anscheinend uneinholbar bei 51.000 Dollar. Das ist ein gewichtiger Grund, warum im ehemaligen "Osten" angesichts weiterhin niedriger Löhne und Renten die Stimmung 30 Jahre nach 1989 eher mies ist.

Ungehemmte Marktwirtschaft

1989 war die Zentrale der Samtenen Revolution im Theater Laterna Magica. Wir Westjournalisten warteten im Zuschauerraum auf die im Bürgerforum aktiven Dissidenten. Erklärungen an die Weltpresse kamen von Jiří Dienstbier, einem zum Heizer degradierten Intellektuellen (wenige Tage später Außenminister), oder von Václav Havel selbst, eben noch politischer Gefangener und demnächst Staatspräsident.

Ins Allerheiligste, Havels Büro in der Künstlergarderobe, wurde nur ein Außenstehender vorgelassen: der Oxford-Historiker Timothy Garton Ash, der mit den Dissidenten schon lange Kontakt hatte. Er war anwesend, als Václav Klaus, der Chef des Prognoseinstituts (der sich insgeheim zu einem neoliberalen Thatcher-Anhänger gewandelt hatte), die schöngeistigen Bürgerrechtler mit einem beinharten Wirtschaftsprogramm überrumpelte.

Ein "Sündenfall"

Diesen "Sündenfall" beschrieb Garton Ash 1990 im Buch Ein Jahrhundert wird abgewählt. In der Neuausgabe dieses Zeitgeschichteklassikers fragt sich der Autor angesichts des Aufstiegs mächtiger Oligarchen und oft korrupter Politiker mit autoritären Tendenzen: "Was ist schiefgelaufen?"

Einen Grund sieht er im "Privatisierungsrausch", dem Politiker wie Klaus, viele Jahre der mächtigste Mann in Tschechien, damals verfielen. Ohne starken rechtlichen Rahmen, nur auf Schnelligkeit bedacht, sei das "ein zutiefst korrupter Prozess" gewesen, bei dem Menschen, "die im kommunistischen Parteistaat über Posten – oder über gute Beziehungen – verfügt hatten, mit aller Gewalt ungeheure Vermögenswerte zugeschanzt bekamen".

Ungehemmte Marktwirtschaft

Keine Frage, die grotesk bürokratisierte staatliche Lenkungswirtschaft musste rasch verändert werden. Kein Wunder auch, dass die Idee einer "Schocktherapie", wie sie etwa der US-Ökonom Jeffrey Sachs vertrat, auf offene Ohren stieß. Die Menschen im Osten wollten eine normale Konsumgesellschaft. Ihre nun gewählten Politiker brachten aber eine ungehemmte Marktwirtschaft, ohne die westeuropäische Betonung des "Sozialen", das für viele wie der überwundene "real existierende Sozialismus" klang.

Sogar aus Linksradikalen wurden im Blitztempo Marktradikale. Etwa in Ungarn, wo für den liberalen Bund Freier Demokraten auch Abgeordnete ins Parlament kamen, die Jahre zuvor verbotenerweise für Mao und Che Guevara geschwärmt hatten. Nun realisierten sie begeistert ein System ohne Zensur und mit allen Freiheiten. Dass gleichzeitig Millionen Arbeitsplätze verloren gingen, beschäftigte sie kaum. Als "größte Schande meines Lebens" bezeichnete der ungarische Philosoph und damalige Abgeordnete Gáspár Miklós Tamás später dieses Versäumnis.

Neuer Hoffnungsschimmer

Die Osteuropäer stimmten mit den Füßen ab. Allein drei Millionen Rumänen wanderten aus; auch drei Millionen Polen suchten im Westen ihr Glück. Der Politologe Ivan Krăstev warnt vor den negativen Folgen dieses "massiven Exodus" vor allem besser Gebildeter für ihre Länder. Nationalistische Politik sei die direkte Folge dieser "demografischen Panik", schrieb der am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen forschende Bulgare Krăstev soeben in der Zeit. Der Umzug in den als unmoralisch und chaotisch beschriebenen Westen soll als unpatriotisch tabuisiert werden. 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wachse so eine neue, mentale Mauer. Die damals gewonnenen Freiheiten sind wieder bedroht.

Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer: Weltoffene und tolerante Bewohnerinnen und Bewohner großer Städte wie Warschau und Budapest haben sich ebensolche Bürgermeister gewählt. Abseits der eng nationalistischen Regierungen ihrer Staaten wollen sie eine Allianz von Städten bilden, die mit der EU direkt kooperieren kann.

Jede Generation muss sich offenbar die Freiheit neu erkämpfen. Hoffentlich erkennt diese, dass zu ihr auch soziale Gerechtigkeit gehört. (Erhard Stackl, 15.11.2019)