Der Schriftsteller wuchs als Kind palästinensischer Emigranten in Syrien auf. Heute lebt er in Schweden, wo er bislang vier Gedichtbände veröffentlicht hat.

Foto: Marte Visser

"Ich kann nicht anwesend sein, denn ich bin jetzt mit dem Kalten Krieg beschäftigt, den ich täglich gegen die Isolation führe, mit der willkürlichen Bombardierung der Dunkelheit, mit der systematischen Depression und den Angriffen der Einsamkeit, die auf die Küche zielen, mit den Kontrollposten, die zwischen mir und dem Sommer stehen, mit der Bürokratie, die durch die Trennung der Legislative von der Exekutive hervorgerufen wird, mit der Routine im Finanzamt, du hast mir lange vom Krieg erzählt, lass mich dir ein bisschen vom Frieden erzählen, dessen ich mich hier im Norden erfreue, lass mich dir von den Abstufungen der Hautfarbe erzählen, davon, was es bedeutet, wenn die Menschen deinen Namen nicht aussprechen können, von schwarzem Haar, von Demokratie, die immer auf Seiten der Reichen steht, von der Krankenversicherung, die die Zähne nicht einschließt, weil diese kein Teil des Körpers sind, lass mich dir von Gemüse ohne Geschmack erzählen, von Blumen ohne Duft, von dem mit einem Lächeln verbrämten Rassismus, lass mich dir von Schnellimbissen, Schnellzügen und Schnellbeziehungen berichten, vom langsamen Rhythmus, der langsamen Trauer und dem langsamen Tod.“

In diesem Abschnitt aus dem Gedicht Ich kann nicht anwesend sein, das ich im Jahr 2013 verfasste, beschrieb ich eine Form der Gewalt, die in aller Stille passiert und eine Melange ist aus Isolation, Einsamkeit, Fremdheit und Unabhängigkeit, zu denen beißende Kälte und eine lang anhaltende Dunkelheit hinzukommen. Gleichzeitig haftet ihr ein gravierender Mangel an Vitamin D an.

Es ist eine Mischung, die ich nicht genau definieren konnte, aber die ich „systematische Depression“ nannte. Diese systematische Depression war mir zu einem treuen Freund in diesem Land geworden, das im Sommer wunderbar und im Winter unmenschlich ist. Und wer die Unmenschlichkeit des schwedischen Winters nicht erlebt hat, sollte wissen, dass die ursprünglichen Bewohner, die Wikinger, geglaubt hatten, dass eine Hölle ein Ort aus Eis sei, in den Gott einen wegen seiner Sünden steckt.

Einsamkeit

Der schwedische Regisseur Erik Gandini weist in seinem Film Die schwedische Theorie der Liebe von 2016 darauf hin, dass einer von vier Schweden allein stirbt und dass 2,7 Millionen Schweden sich einsam fühlen.

Und ich möchte hier bescheinigen, dass ich einer von diesen 2,7 Millionen Schweden bin und dass ich mir wünsche, nicht allein zu sterben. Aber immer, wenn ich als Schwede traurig darüber bin, in Schweden zu sein, denke ich an Finnland, und dann verspüre ich eine seltsame Glückseligkeit, ganz einfach deshalb, weil ich in Schweden bin.

Finnland ist ein trostloses, kaltes, depressives Land, das nicht spricht. Sogar Bertolt Brecht sagte, die Finnländer, die über zwei offizielle Sprachen verfügten, dass Finnische und das Schwedische, seien die einzigen Menschen auf der Welt, die „in zwei Sprachen schweigen“. Meine schwedischen Freunde und ich dachten immer, wie glücklos doch die Geflüchteten seien, die das Schicksal in jenes Land geführt hatte, das noch nicht einmal einem warmen Brotfladen zulächelt, wie wir auf Arabisch sagen.

Wie erdrückend schwer die Depression in Finnland ist, kannst du dir vorstellen, wenn du dir nur einmal vor Augen führst, dass wir Schweden, deren Land in der ganzen Welt für seine Depression und seine hohe Selbstmordrate bekannt ist, gegenüber Finnland Mitleid empfinden.

Von Träumen und Rechten

Nun hat Finnland im zweiten Jahr hintereinander die Bezeichnung „Glücklichstes Land der Welt“ im internationalen Glücksbericht verliehen bekommen. Und im selben Bericht, der das Glücksniveau von 156 Staaten auflistet und sich auf die Meinungsumfragen der Gallup International Association stützt, sind darüber hinaus alle skandinavischen Länder in der Liste der besten Länder nach vorn gerückt.

Aber ist Finnland wirklich glücklich? Habt ihr schon einmal jemanden aus Finnland getroffen? Sind die Finnen wirklich glücklicher als die Ägypter und die Brasilianer und die Inder? Hat es diese teuflische kapitalistische Welt geschafft, Glück mit materiellem Wohlstand und der Anhäufung von Besitz zu verbinden?

Man erzählt sich, ein Mann sei nach seinen Träumen gefragt worden und er habe geantwortet: Er möchte Arbeit, eine Wohnung und eine Ehefrau. Da habe man zu ihm gesagt: „Wir haben dich nach deinen Träumen gefragt und nicht nach deinen Rechten.“ Seit wann ist das Vorhandensein von Rechten ein Indikator für Glück? Was ist denn ein gutes Leben genau?

Jung auf dem Alten Kontinent

Ich habe nie, wenn ich an das Leben dachte, an das Leben in seinem abstrakten Sinn und an die existenziellen Fragen, darüber nachgedacht, ob das Leben gut sei. Und ich habe immer an übermäßigem Selbstvertrauen gezweifelt, dessen sich viele Menschen in der Ersten Welt ganz allgemein erfreuen. Ich habe mich stets gefragt, was wäre, wenn das Leben in der Ersten Welt, gemäß den von der Ersten Welt selbst gesetzten Maßstäben, als gutes Leben bezeichnet würde?

Als ich 2008 nach Schweden kam, war ich fasziniert von den vielen in der Metro lesenden Menschen. Mir gefiel der Gedanke, dass die Menschen gierig sind nach Lesen. Lesen war für mich immer mit Kultur verbunden und Kultur mit einem guten Leben. Heute, nachdem ich eine geraume Zeit hier verbracht habe, habe ich begriffen, dass die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln meist miese, kommerzielle, wertlose Literatur lesen, vorwiegend Krimis und immergleiche Geschichten über die immergleichen Verbrechen oder über Zombies und Blutsauger.

Diese Bücher sind so schlecht, dass ihre Leser sich eher fortbilden würden, wenn sie ganz einfach darauf verzichteten, sie zu lesen. Jetzt kann ich behaupten, dass der Anteil der zum Beispiel Kafka lesenden Menschen im Nahen Osten genauso hoch ist wie in Europa.

Siebenundzwanzig Quadratmeter

In jenen Tagen, als ich noch jung war auf diesem Alten Kontinent, also ein Jahr nach meiner Ankunft in Schweden, unterschrieb ich einen Mietvertrag für eine Wohnung in Stockholm. Ich hatte ein Jahr des Leidens hinter mir, in dem ich mit anderen Menschen zusammengewohnt und von einer miserablen Unterkunft in die nächste umgezogen war.

Ich rief meine Mutter über das Mobiltelefon an und erzählte ihr voller Freude, ich hätte endlich eine Wohnung gefunden und das sei für einen Neuankömmling etwas ganz Besonderes. Meine Freude übertrug sich sogleich auf meine Mutter, und sie erkundigte sich, wie groß die Wohnung sei. „Siebenundzwanzig Quadratmeter“, antwortete ich.

Erst herrschte langes Schweigen, dann fragte sie: „Heißt das, dass du in einem Zimmer wohnst in einer Wohnung zusammen mit anderen?“ Ich sagte: „Nein, meine neue Wohnung hat siebenundzwanzig Quadratmeter.“ Danach war es noch länger still als vorher.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie mich fragte, ob ich Witze machen und ob ich wirklich in Schweden wohnen würde. Dann sagte sie etwas wie: Schweden sei doch bekannt für seinen Reichtum und den Wohlstand seiner Bürger, und wie könne es da sein, dass ein Appartement nur siebenundzwanzig Quadratmeter groß sei?

Wie sollte ich meiner Mutter erklären, dass das für seinen Wohlstand bekannte Schweden auch für seine Appartements in Streichholzschachtelgröße bekannt sei und dass es viele solcher Wohnungen wie meine gebe, die kleiner seien als jede Küche in Syrien, einem Land der Dritten Welt?

Detonationen als Hintergrundmusik

Ghayath Almadhoun, "Ein Raubtier namens Mittelmeer". Gedichte. Übersetzt von Larissa Bender. 10,30 Euro / 423 Seiten. Arche-Literatur-Verlag, Zürich und Hamburg 2018
Cover: Arche-Literatur

Und wo wir gerade bei meiner Mutter sind: Wenn ich sie in Syrien anrief und das Krachen der Detonationen als Hintergrundmusik vernahm, erzählte mir meine Mutter, die sich nach mehreren Jahren Krieg des syrischen Regimes gegen die syrischen Städte an die Detonationen gewöhnt hatte, was sie heute gekocht habe, wie sie die Auberginen frittiert und in Knoblauch eingelegt habe, wie sie dann frische Tomaten und natives Olivenöl und scharfe Paprika hinzugefügt habe, die mein Vater in unserem Garten zog, und dass das Essen heute vegetarisch sei, weil sie wegen des heftigen Bombardements kein Fleisch habe besorgen können. Und ich trat in diese surreale Welt ein wie jemand, der ins Kino geht.

Vor zwei Jahren wurde in den Nachrichten einmal vor einem heftigen Sturm gewarnt, der über Schweden hinwegfegen würde. Ich kann mich noch immer an die Stimme meiner Mutter erinnern, die durch das Geräusch der Detonationen zu mir drang. Sie hatte mich in Panik angerufen, um zu hören, ob es mir gutgehe, weil sie bei Al Jazeera von dem Sturm erfahren habe.

In dem Gedicht Schwarze Milch, das ich 2016 schrieb, heißt es: „Und in der gleichen Raumzeit, in der ich im äußersten Norden Europas den Luxus genieße, in einem Land mit 97.500 Süßwasserseen, erzählt mir meine Mutter, dass sie durstig sei, und ich erinnere mich an den Roman Der Fremde ... und versuche, nicht an Albert Camus zu denken.“

Ein gutes Leben ist, wenn man ein Glas klaren Wassers in Stockholm trinkt, um seinen Durst zu löschen, ohne einen Kloß im Hals zu haben, weil die eigene Mutter wegen der Belagerung der syrischen Städte durch das syrische Regime Durst verspürt. (Ghayath Almadhoun, aus dem Arabischen von Larissa Bender, 17.11.2019)