Rolf Dobelli: Liest man ihn genauer, sieht man, dass seine Kur keine Nulldiät ist.

Foto: Bodo Rüedi

In der sich digitalisierenden Gesellschaft wird die Klage lauter, dass wir mit Nachrichten überfüttert, aber deswegen nicht besser informiert sind: "overnewsed and underinformed". Rezepte dagegen werden immer wieder ausgestellt. Kaum jemand aber tut das so radikal wie Rolf Dobelli. Der Schweizer Ex-Manager, Unternehmer und Autor rät, auf News überhaupt ganz zu verzichten.

Über seine Landesgrenzen hinaus bekannt wurde Dobelli unter anderem mit Kolumnen in der NZZ und der FAZ, in denen er gern intuitive Gewissheiten als Irrtümer darstellte und die er zu Bestsellern verarbeitete. So entstanden Die Kunst des klaren Denkens, dann jene des klugen Handelns und die des guten Lebens und nun eben Die Kunst des digitalen Lebens.

Ursprünglich hätte das Buch Die News-Diät heißen sollen. Das trifft es auch. Es ist aufgebaut, als ginge es darum, in einem Monat für immer schlank zu werden. Kapitelweise zählt der Autor Argumente auf, die dem Leser zur Abstinenz verhelfen sollen: Von Irrelevanz bis Terrorismusförderung, von Zeitverschwendung bis Zerstörung der Seelenruhe und obendrein noch Verdummung – an alldem sei der ständige Konsum von Neuigkeiten schuld.

Blödmaschinen

Seinen Schuldspruch untermauert Dobelli mit einem ganzen Apparat an Quellen, Zitaten, Verweisen auf Forschungsergebnisse und mit einer Fallstudie: Er habe sich, schreibt er, die Diät vor neun Jahren selbst verschrieben, sei auf Entzug von der "Droge" News, "so gefährlich wie Alkohol, (...) eigentlich noch gefährlicher", gegangen. Heute sei er "clean", er könne klarer denken (siehe Buchtitel oben), besser entscheiden und habe mehr Zeit denn je.

Nun ist Dobelli mit seiner Absage an die Nachrichtenschwemme ja nicht allein, und sie ist auch nicht ganz neu. Schon Marcel Proust ließ seinen Charles Swann darüber sinnieren, dass er in der Tageszeitung lieber zum Beispiel die Pensées von Pascal lesen würde und nur alle paar Jahre irgendwelche trivialen Tagesaktualitäten.

Max Frisch – Dobelli zitiert ihn – resümierte über die ständig sich wiederholenden Aufreger: "Langsam weiß man's. Nichts Neues." Und in den Chor, dass Medien sowieso für die Katz sind, stimmte unlängst der Österreicher Alfred Noll in einem Interview ein: "Blödmaschinen, sie verunmöglichen Bildung, weil sie Informationen auseinanderreißen (...)."

Homöopathischer Konsum

Macht es sich Dobelli auch so einfach? Nicht ganz. Liest man ihn genauer, sieht man, dass seine Kur keine Nulldiät ist. Er verdammt zwar "News" generell, meint aber vor allem die atemlose Produktion von Tagesnachrichten, also die "breaking news" im Boulevard, in Nachrichtenportalen und besonders in den sozialen Medien. Qualitätsmedien lässt er eher gelten, wenn man sie homöopathisch konsumiert.

Aber was sie auszeichnet, sei teuer und immer schwieriger zu bewältigen: die investigativen oder sonstwie gründlichen Reportagen à la Watergate seinerzeit. Er selber, schreibt er, halte sich an wöchentliche Zusammenfassungen im Economist, Periodika wie Foreign Affairs, wissenschaftliche Zeitschriften und Textbücher. Zudem gehe er gerne mit interessanten Menschen mittagessen. Das ist News-Enthaltsamkeit auf Gutsherrenart.

Dobelli genießt die Früchte, die andere in harter Tagesarbeit zusammentragen, und verschafft sich so den nötigen Überblick. So weit, so akzeptabel, er bedient sich des Medienmarktes eben selektiv.

Es geht aber noch weiter bzw. es wird noch enger: Dobelli bezweifelt, dass es überhaupt einen Sinn ergibt, zu viel von der Welt zu wissen. An den meisten Dingen, von denen man erfährt, könne man sowieso nichts ändern. Das führe nur zu erlernter Hilflosigkeit und sei womöglich ein Grund für die immer zahlreicher auftretende Zivilisationskrankheit Depression.

Man möge sich auf die News beschränken, die für einen persönlich relevant sind: wie es der Familie geht, die Krankheit der Tante, der Verkehr im Viertel, der Mail-Austausch mit einem Forscher, eine neue Geschäftsidee usw.

Spätestens angesichts des skizzierten Grätzel-Biedermeiers stellt sich die Frage nach den politischen Folgen der Dobelli'schen News-Diät. Intuitiv wird man einwerfen, dass zum Zoon politikon das Einholen auch von Nachrichten gehört, die über den eigenen Horizont hinausgehen; dass Solidarität, Verständnis, Handlungsbereitschaft auch Menschen und Zuständen in der Ferne gelten sollen.

Rolf Dobelli, "Die Kunst des digitalen Lebens. Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern", 20,60 Euro / 256 Seiten. Piper, München 2019.
Cover: Piper

Dobelli bestreitet, dass das sinnvoll oder auch nur möglich ist. Einer so individualistischen Haltung misstraut man. Doch sie nagt an einem. Man stöhnt ja selber unter dem eigenen Anspruch, ständig informiert zu sein.

Sollte man vielleicht die "sanfte" Variante der Diät ausprobieren? Nicht mehr, wie der Rezensent eben schon wieder, auf den Newsfeed am Smartphone schielen; Tweets zur Abwechslung mal ignorieren; gar am Wochenende endlich wieder ein Buch lesen, statt im Kaffeehaus 100 Artikel aus zehn Zeitungen zu überfliegen!

Viele seiner Erkenntnisse, schreibt Rolf Dobelli, verdanke er seinem Mentor Nassim Taleb, dem erfolgreichen Finanzmathematiker, Investor und Autor (Der schwarze Schwan). Er wüsste nur nicht mehr genau, welche – das steht zweimal im Buch und dürfte damit zu tun haben, dass Taleb ihm vor mehreren Jahren heftige Plagiatsvorwürfe gemacht hat.

Und woher weiß man von der Entfremdung der beiden? Natürlich aus guten Printmedien und ihren Onlinearchiven ... (Michael Freund, 18.11.2019)