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George Eliot, eigentlich Mary Ann Evans, englische Schriftstellerin, gezeichnet von Sir Frederick William Burton (1816–1900).

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Das Einfachste zuerst: George Eliot war kein Mann. Die Schriftstellerin Mary Ann Evans hatte noch als Vierzigjährige einen Männernamen angenommen, um in einer Männergesellschaft mit ihren Erzählwerken Anerkennung zu finden.

Zu Lebzeiten war sie so berühmt wie Charles Dickens. Auf ihre Romane, die ab 1859 in rascher Folge erschienen, stürzte sich die viktorianische Leserschaft.

Wie viel Zeit die Leser und vor allem die Leserinnen im 19. Jahrhundert doch gehabt haben: Tausend Seiten von George Eliot waren für sie wohl keine Verheißung von Mühsal, sondern eine starke Verlockung. Und tatsächlich: Die dickleibigen Romane bieten auch dem heutigen Leser das nachhaltige Vergnügen eines scharfsichtigen Einblicks in die psychologischen Verwicklungen und sozialen Verstrickungen der erzählten Welt.

Diese Welt ist das rurale England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den einfachen Menschen und ihrem ländlichen Leben galt die ganze Aufmerksamkeit der Autorin. George Eliot stammte selbst von dort: In der mittelenglischen Grafschaft Warwickshire, wo sie vor 200 Jahren, am 22. November 1819, geboren wurde, war ihr Vater als angesehener Gutsverwalter verschiedener Herrenhäuser tätig.

Freuden und Schrecken der frühen Jugend

In ihrem Roman Die Mühle am Floss (The Mill on the Floss, 1860) hat die Autorin das Heranwachsen in den friedvollen Gefilden dieser Heide- und Kornlandschaft mitreißend dargestellt: nicht autobiografisch, sondern versetzt in die realistische Erlebniswelt des Geschwisterpaars Tom und Maggie Tulliver, die denkbar ungleich geraten sind.

Tom erweist sich als herrschsüchtiger Junge, geistig schwerblütig, doch stets kampfbereit. Maggie hingegen tobt als Wildfang voll Abenteuerlust und ungestümem Temperament durch Wald und Flur.

Gefährdet ist diese Pastorale durch den zornmütigen Vater, der, nicht nur in finanziellen Dingen unbesonnen, die Familie schließlich in den Ruin führt. Illusionslos werden Freuden und Schrecken der frühen Jugend heraufbeschworen. Psychologisch einfühlsam blickt die Autorin auf den Seelenschmerz der Kindheit zurück: „Kindheit kennt keine Vorahnungen, aber sie wird auch durch keine Erinnerungen an überstandene Sorgen leicht gemacht.“

Farmhäuser und Herrenhäuser

Eliot lenkt den Blick auch auf Stadtgeschichtliches: auf die Schrecken der religiös grundierten Bürgerkriege, „wo zuerst die Puritaner Gott für das Blut der Loyalisten und dann die Loyalisten Gott für das Blut der Puritaner dankten“.

Ländlicher Friede, Nahbarkeit, bäuerliche Farm- und georgianische Herrenhäuser, eine Wollspinnerei und eine Mühle: das sind die Realien, die von der Autorin hier erstmals detailgenau in die englische Literatur eingeführt werden. Dazu kommen die gesellschaftlichen Bedingungen von Kleinbauern, Tagelöhnern und Heimarbeiterinnen, die von der beginnenden Industrialisierung in ihrer Existenz bedroht sind.

In Middlemarch, ihrem 2015 von einer internationalen Riege namhafter Literaturkritiker zum „bedeutendsten Roman der englischen Literatur“ gekürten Meisterwerk, weitet sich die Perspektive auf ein gesamtes Kleinstadtmilieu um 1830 in Mittelengland aus.

Im Blickpunkt stehen die komplementären Eheschicksale der wissbegierigen, doch leichtgläubigen Bürgerstochter Dorothea Brooke und des fortschrittlichen jungen Arztes Tertius Lydgate, die beide mit ihren hochfliegenden Plänen an den zähen Beharrungskräften der Provinzgesellschaft scheitern.

Verachtung der bürgerlichen Ehe

Rund um diese Zentralfiguren gruppieren sich etliche Nebengestalten mit nicht minder exemplarischen Schicksalen. In jeder Zeile des feinverästelten Großromans ist George Eliots Verachtung der bürgerlichen Ehe als damals allein seligmachender Lebensform weiblicher Selbstverwirklichung nachzulesen. Die Autorin findet dafür das provokante Wort „Jungfernopferung“. Tatsächlich gehen erstaunlich viele Ehen in dem Roman in die Brüche.

Umso einfühlsamer sind die gegeneinander abgehobenen Frauenporträts gezeichnet: angepasst bis zur Selbstverleugnung die einen, souverän in ihrem Außenseitertum die anderen. Die Autorin war da, auch in ihrer eigenen Entscheidung für ein jahrzehntelanges Leben mit einem verheirateten Mann, dem die damaligen Gesetze die Scheidung nicht erlaubten, in ihrer selbstbestimmten Freiheit der eigenen Epoche weit voraus.

Natur ist von jeher ein wesentlicher Haltepunkt der Literatur. Um die Atmosphäre in der Kleinstadt Middlemarch zu schildern, bemüht George Eliot denn auch ein Zitat des Lukrez aus dessen De rerum natura: Es gäbe dort kein Entkommen vor „den verschiedenen Verwirrungen, Lasten, Schlägen, Zusammenstößen und Antrieben, durch die alles unerbittlich weitergeht“.

Ihre Poetik ist geprägt durch intellektuelle Einsicht und einen illusionslosen Realismus: „Würden wir das ganze gewöhnliche Menschenleben klarer sehen und fühlen, wäre es, als würden wir das Gras wachsen und das Herz des Eichhörnchens schlagen hören, und wir würden an diesem Getöse sterben, das auf der anderen Seite des Schweigens liegt. So aber wandeln auch die Aufgewecktesten von uns umher, dick eingepackt in ihren Stumpfsinn.“

Kopf und Kragen riskieren

In ihrem letzten Roman Daniel Deronda (1876) wird das Tableau grundlegend erweitert. In diesem Spätwerk befinden wir uns erstmals im viktorianischen Zeitalter, in George Eliots Jetztzeit. „Kopf und Kragen riskieren für eine Frau“: Das könnte sich der Titelheld Daniel Deronda vorstellen, seit er die berückend verführerische Femme fatale Gwendolen Harleth am Roulettetisch eines Kasinos in einer deutschen Kurstadt erblickt hat.

George Eliot, "Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz". Aus dem Englischen mit Nachwort von Melanie Walz. Gebundene Ausgabe, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2019. 1.264 Seiten / 45 Euro (D).

Sie verspielt all ihr Geld und versetzt daraufhin ihre Halskette, doch Daniel löst diese heimlich wieder aus und lässt sie ihr zustellen. Indes verfolgt die Autorin unmittelbar nach dieser dramatischen Eingangsszene das Vorleben der beiden Protagonisten in weit auseinanderstrebenden Handlungssträngen, die bis zur ungebärdigen Jugend der verwöhnten Beauty Gwendolen und zur unklaren Herkunft des gutherzigen Daniel zurückreichen.

Über mehrere kunstvoll erzählte Erlebnisstufen wird das Irrlicht Gwendolen aus ihrer selbstgefälligen Abhängigkeit von Männern und Reichtum herausgeführt und an die Schwelle möglicher Emanzipation gestellt. Daniel Deronda aber, der erst spät von seiner jüdischen Abstammung erfährt, setzt alles daran, gegen die in der englischen Gesellschaft wachsenden antisemitischen Vorurteile anzukämpfen.

George Eliot, "Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz". Aus dem Englischen von Rainer Zerbst. Gebundene Ausgabe, dtv, München 2019, 1.150 Seiten / 28 Euro (D).

An dieser Stelle wird die Figur des Juden Mordechai in das Romangeschehen eingeführt, dem Eliot die erstaunlich frühe Vision eines jüdischen Staats in Palästina in den Mund legt, in dem sich das in alle Welt verstreute Judentum niederlassen werde.

Wie zur Bestätigung ihrer Analyse wurde George Eliot gerade für diesen Teil des Romans von der Literaturkritik vehement gerügt. Und dass es zum 200. Geburtstag der Autorin gleich zwei neue Ausgaben von Middlemarch, doch keine Neuauflage von Daniel Deronda auf Deutsch gibt, spricht Bände.

„Ich charakterisiere gern die Zeitalter und verknüpfe für alle Arten von Denkern individuelle Lebenswege mit dem Strom der Geschichte“, bekennt die Autorin in einem ihrer nicht seltenen Selbstkommentare in Daniel Deronda. Menschenkunde und Gesellschaftswissen vermählen sich in den Werken dieser herausragenden Erzählerin aufs Sinnfälligste.

Ihr Blick auf die Welt ließ weder Sentimentalität noch flaue Zuversicht zu. Berühmt wurde deshalb der verhaltene Optimismus am Ende von Middlemarch: „Das Wachstum des Guten in der Welt hängt bis zu einem gewissen Grad von Taten ab, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen; und dass die Dinge für dich und mich nicht so schlecht stehen, wie sie sein könnten, verdanken wir zur Hälfte jenen, die vertrauensvoll ein Leben im Verborgenen gelebt haben und in Gräbern ruhen, die niemand besucht.“ (Oliver vom Hove, 19.11.2019)