Foto: Rolex/ Sébastien Agnetti

Superman habe ihm gesagt, er soll pragmatisch sein. Grégoire Courtine arbeitete nach seinem Studium als junger Postdoc-Forscher für die Christopher-&-Dana-Reeve-Stiftung, die sich der Forschung und Rehabilitation im Bereich von Wirbelsäulenverletzungen widmet. Stifter Christopher Reeve, Darsteller in den Superman-Filmen der 1970er und 1980er, war selbst nach einem Reitunfall im Jahr 1995 vom Hals abwärts gelähmt. Courtine war dabei, als Reeve einer Gruppe von Forschern ins Gewissen redete: "Ihr müsst pragmatischer sein!", sagte er in der Erinnerung des Wissenschafters. "Schaut euch den täglichen Kampf der Reha-Patienten an! Denkt nach, wie ihre Leben besser gemacht werden können!"

Neue Technologien

Courtine hat sich diese Worte zu Herzen genommen. Er verharrte nicht in der Grundlagenforschung, sondern suchte neue Ansätze und Technologien, die er schnell zu den Patienten bringen konnte. Der Neurowissenschafter hatte in Paris und Los Angeles studiert und ab 2008 in der Schweiz an der Universität Zürich ein Labor aufgebaut, bevor er 2012 an das EPFL Lausanne berufen wurde. Dort stellt er Lösungen vor, die für viele Menschen wie Science-Fiction klingen: Implantate im Gehirn, die Signale zu einem Computer schicken, der diese wiederum in Kommandos für die Nerven im Rückenmark umwandelt. Die Arbeit mit Neuroprothesen, die in Gehirn und Rückgrat implantiert werden können, zeigt, wie Mensch und Technik dabei sind, im wahrsten Sinne "zusammenzuwachsen". Es vermittelt eine Ahnung, wie Medizin in Zukunft auch aussehen kann.

Patienten müssen die Signale des Implantats mit ihren eigenen Bewegungsabsichten koordinieren lernen.
Foto: Rolex/ Sébastien Agnetti

Elektrostimulation der Nerven im Rückgrat gibt es als Behandlungsmethode schon seit Jahrzehnten. Aber nur in wenigen Fällen erlangen gelähmte Patienten dadurch tatsächlich mehr Kontrolle über ihre Beine. Selbst die Arbeit mit Implantaten, die die Impulse direkt im Körper abgeben, war bisher mäßig erfolgreich. Die Nerven im Rückgrat benötigen gezielte Kommandos, um Bewegungen in den Beinen zu veranlassen, erkannten Courtine und sein Team. Und sie suchten nach Möglichkeiten, diese Kommandos genau zur richtigen Zeit und am richtigen Ort in der Wirbelsäule geben zu können. In jahrelanger Arbeit an Tiermodellen wurde versucht, der nötigen Präzision zu entsprechen, bevor man den Sprung zum Menschen wagte. Mittlerweile gibt es acht Patienten, die mithilfe dieses Ansatzes ihre ersten Gehversuche machen.

"Wir setzen 16 Elektroden ein und positionieren sie so, dass sie verschiedene Regionen des Rückenmarks ansprechen können", beschreibt Courtine im Gespräch mit dem Standard. Das Implantat sendet Impulse aus, die die Signale imitieren, die das Gehirn über unversehrte Nervenbahnen schicken würde. Sie verstärken damit eine vorhandene Restaktivität beschädigter Bahnen und sorgen so für gezielte Bewegungen der Muskeln – das Abwinkeln und Ausstrecken der Beine. Gesteuert werden die Impulse des Implantats von einem drahtlos verbundenen Computer am Körper des Patienten. Für jeden Patienten braucht es individuelle Modelle der neurologischen Gegebenheiten, um die Elektroden zu platzieren und den räumlich und zeitlich verteilten Ablauf der Impulse exakt zu koordinieren. Die Patienten müssen hingegen versuchen, ihre Bewegungsabsicht mit den Impulsen abzustimmen.

Patienten müssen die Signale des Implantats mit ihren eigenen Bewegungsabsichten koordinieren lernen.
Foto: Rolex/ Sébastien Agnetti

Bewusste Muskelkontrolle

Erste Studienteilnehmer – die zum Teil jahrelang gelähmt waren – konnten nach einer Woche der Systemkalibrierung mithilfe robotischer Stützsysteme wieder erste Schritte machen, schreiben Courtine und Kollegen 2018 in den Fachjournalen Nature und Nature Neuroscience. In der Folge konnten sich die Probanden mithilfe eines Rollators zum Teil auch ins Freie wagen. Zudem zeigte sich noch ein Effekt: Die gezielte Stimulation regte die Nervenfasern in unerwartet hohem Maße zur Reorganisation an. Innerhalb von fünf Monaten Training verbesserte sich die bewusste Muskelkontrolle deutlich. Die Teilnehmer konnten ihre Beine also in gewissem Maße auch ohne Stimulation wieder bewegen.

Dem 1975 geborenen Courtine wurde für die Arbeit viel Aufmerksamkeit zuteil. Die Neuroimplantate werden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften als eine der wichtigsten Zukunftstechnologien diskutiert. Nach Finanzierungen durch das European Research Council (ERC) in den Jahren 2010 und 2015 erhielt er heuer einen ERC-Proof-of-Concept-Grant, der helfen soll, aus der Erfindung eine marktfähige Anwendung zu machen. Selbst Uhrenhersteller Rolex zeichnete Courtine kürzlich mit einem seiner "Preise für Unternehmergeist" aus, die der Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen gewidmet sind.

Patienten müssen die Signale des Implantats mit ihren eigenen Bewegungsabsichten koordinieren lernen.
Foto: Rolex/ Sébastien Agnetti

Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen sollten sich aber nicht zu früh freuen. Bis eine derart komplexe experimentelle Behandlung in eine normale klinische Praxis überführt werden kann, vergeht viel Zeit. Courtine selbst spricht von fünf bis zehn Jahren. Gleichzeitig öffnen sich aber durch die Hightech-Neuroprothesen zahlreiche neue Möglichkeiten. Selbst der Heilige Gral der Neurowissenschaft, eine hochauflösende Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer, scheint näher zu rücken.

Courtine und sein Team haben in diesem Bereich selbst gezeigt, wohin die Reise gehen könnte. Bereits in einer Nature-Publikation von 2016 beschrieben sie, wie man das Neuroimplantat am Rückenmark direkt über eine computergesteuerte Brücke mit dem Gehirn verbinden kann. Die Gehirnströme des Bewegungskortex wurden dabei – im Tierversuch bei einem Affen – direkt abgelesen, von einem Computer verarbeitet und zum Rückenmarkimplantat als Kommandos an die Beinmuskeln weitergeschickt.

Künstliche Intelligenz

"Ein Gerät mit 64 Elektroden, die die Gehirnströme aufnehmen, wurde direkt an der Dura Mater, der äußeren Hirnhaut, angebracht", erklärt Courtier. Das Signal sei ähnlich einem EEG, aber die Auflösung wesentlich besser. Die gesammelten Daten werden an einen Computer geschickt, der darin Muster erkennt und die für die Beinbewegung wesentlichen Informationen extrahiert. Damit hätte man ein System künstlicher Intelligenz entwickelt, "das basierend auf den Gehirnsignalen die Intention des Patienten decodiert", beschreibt Courtine den Vorgang. "Natürlich denkt man beim Gehen nicht: Jetzt das linke Bein abwinkeln, und jetzt das rechte. Aber man bekommt genug Informationen, um die Stimulation am Rückenmark durchzuführen." Zwei mit diesem Neuro-Bypass ausgestattete, zuvor gelähmte Affen konnten binnen weniger Tage und Wochen wieder auf einem Laufband gehen.

Christopher Reeve, der bereits 2004 gestorben ist, konnte die Welt der modernen Neuroimplantate und künstlichen Intelligenz nicht mehr miterleben. Aber es ist anzunehmen, dass es Superman gefallen hätte. (Alois Pumhösel, 17.11.2019)