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Forscht zu Arm und Reich: Daron Acemoğlu.

Foto: MIT

Auch Jahrzehnte nach ihrer Unabhängigkeit sind die meisten Länder Afrikas relativ arm. Der Ökonom Daron Acemoğlu hat nicht nur dafür eine Erklärung – sondern auch eine große Theorie über die Quelle von Wohlstand. Für ihn ist nicht überraschend, dass es noch immer Armut gibt. Besonders sei, dass heute einige Regionen auf der Welt wohlhabend sind. Seine Theorie dazu machte ihn gemeinsam mit dem Politikwissenschafter James Robinson berühmt.

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Ein Mädchen in Lagos, der größten Stadt Nigerias.
Foto: APA/AFP/FLORIAN PLAUCHEUR

STANDARD: Warum sind manche Länder arm und andere reich?

Acemoğlu: Darüber haben viele große Denker nachgedacht. Bis zu einem gewissen Grad haben James Robinson und ich eine sehr simple Antwort darauf. Es geht großteils um Anreize und Möglichkeiten. Ein Land entwickelt keinen Wohlstand, wenn es Menschen keinen Anreiz gibt zu investieren und um innovativ und produktiv zu sein – genauso muss die breite Masse der Gesellschaft Möglichkeiten haben. Wenn nur eine kleine Elite wichtige Berufe, Unternehmen, Forschung und Wissenschaft kontrolliert, dann entsteht kein Wohlstand. So weit sind sich die meisten Ökonomen einig.

STANDARD: Sie gehen weiter ...

Acemoğlu: Unser Argument ist, dass diese Anreize und Möglichkeiten sozial und politisch entstehen. Man kann das nicht verstehen, ohne tief in Institutionen einzutauchen, in soziale Normen und in die Politik. Man braucht eine spezielle Art von wirtschaftlichen Institutionen, die sichere Eigentumsrechte liefern. Gleichzeitig braucht es öffentliche Dienstleistungen. Die Regierung muss gleiche Chancen gewährleisten, das Rechtssystem muss die Schwachen vor den Starken schützen. All diese Dinge sind Teil dessen, was wir inklusive wirtschaftliche Institutionen nennen.

STANDARD: Wie entstehen diese?

Acemoğlu: Politisch. Sie entstehen in keinem Vakuum. Wenn der König oder der Diktator die ganze Macht hat, kann man für einige Zeit Glück haben, und es gibt trotzdem Wachstum. Aber am Ende des Tages gibt es einen Konflikt zwischen der Monopolisierung der politischen Macht und inklusiven wirtschaftlichen Institutionen. Wenn also die breite Masse nicht politisch mitreden kann, werden die wirtschaftlichen Regeln nicht lange inklusiv sein. Das Problem ist, dass die meiste Zeit der Geschichte weder die politischen noch die wirtschaftlichen Institutionen inklusiv waren.

STANDARD: Manche meinen, es gibt Armut, weil es Ausbeutung gab. In Ihrer Lesart ist nicht Armut überraschend, sondern dass einige Länder diese nötigen Institutionen und dann Wohlstand entwickelt haben.

Acemoğlu: Ja, absolut. Wenn man aber über die Institutionen auf der Welt nachdenkt, kann man die Rolle des Westens nicht ignorieren. Der Westen war der Erste, der Institutionen hatte, die den inklusiven nahekommen. Das ist die Wurzel des Wohlstands Europas. Aber während sich Europa wirtschaftlich und technologisch entwickelte, hat es auch ein globales Kolonialreich aufgebaut. In den meisten Teilen der Welt war es ausbeuterisch. Man kann die wirtschaftlichen und politischen Institutionen in Lateinamerika, Afrika und Indien heute nicht ohne den Kolonialismus verstehen. Es gibt aber zwei große Aber.

STANDARD: Welche?

Acemoğlu: Erstens: Das erklärt bei weitem nicht alles. Fast jedes Land in Afrika ist seit mehr als 60 Jahren unabhängig. Lateinamerika seit 200 Jahren. Es reicht nicht zu sagen, Europa hat ein Land ausgebeutet und deshalb ist es arm. Europäer haben auch neue Technologien gebracht, was zu limitiertem Wachstum führte. Bemerkenswert ist, dass es in Lateinamerika 100 Jahre und in Afrika 50 Jahre nach Unabhängigkeit kein wirtschaftliches Wachstum gab. Dafür muss man über die lokale Politik nachdenken und darüber, wie Regierungen die vormals kolonialen Strukturen nutzten. Es geht um die Evolution dieser Institutionen.

STANDARD: Das zweite Aber?

Acemoğlu: Inklusive Institutionen sind in der ganzen Geschichte der Menschheit die Ausnahme, nicht die Regel. Fast alle Länder hatten ausbeuterische Institutionen, bevor die Europäer kamen. Es war auch nicht so, als wären sie kurz davor gewesen, dass sich das ändert. Dass es politische Macht für die breite Masse gibt, ist historisch ein sehr neues Phänomen.

STANDARD: Welche Rolle hat Ausbeutung für Europas Wohlstand?

Acemoğlu: Manche Historiker meinen noch, dass Europa einen starken Schub durch den Kolonialismus bekam. Aber die Evidenz einer breiten Literatur ist, dass die Ressourcen aus den Kolonien in keinster Weise vergleichbar sind mit dem Wirtschaftswachstum, das aus Europa selbst kam. Der Kolonialismus hat aber Gruppen gestärkt, die sich in England gegen die Krone auflehnten. Das hat die Institutionen mitverändert.

STANDARD: Warum ist Afrika der Kontinent, wo Anreize und Möglichkeiten am wenigsten da sind?

Acemoğlu: Zwei Antworten. Die erste: Der Kolonialismus wiegt schwer. Nicht wie in Indien oder Lateinamerika, dort wirkte er direkt viel stärker. Aber die Sklaverei hat die politische Landkarte in Afrika verändert. Und dann, als die Europäer im 19. Jahrhundert spät kamen, haben sie indirekt, aber sehr ausbeuterisch regiert und wenig lokal investiert.

STANDARD: Die zweite Antwort?

Acemoğlu: Auch vor dem Kontakt mit Europäern war Afrika ökonomisch und politisch anders als der Rest der Welt. Viele Gemeinschaften waren dezentralisiert, ohne die Möglichkeit, dass ein Staat für Recht und Ordnung sorgen oder Dienstleistungen erbringen kann. Es gab Normen und Traditionen, die es nicht immer einfach gemacht haben, dass Dinge, die in Europa entstanden, hier übernommen werden. Der Kolonialismus war ausbeuterisch, aber die meisten Elemente afrikanischer Gesellschaften, die schlecht für Wachstum sind, blieben unverändert.

STANDARD: Zum Beispiel?

Acemoğlu: Es gibt noch immer Regeln, wo es kein privates Eigentum an Land gibt. Es gibt viele Spaltungen in Gesellschaften, die Staaten machtlos machen. Aber ich möchte betonen, dass das keine rein kulturelle Erzählung ist. Wir sagen nicht, dass es eine afrikanische Kultur gibt, die Entwicklung nicht möglich macht. Trotz der sehr schweren Ausgangslage hat Botswana etwa seine Institutionen verändert und spektakuläres Wirtschaftswachstum erzielt.

STANDARD: In Ihrem Buch "The Narrow Corridor" schreiben Sie davon, dass sich Staat und Gesellschaft wechselseitig antreiben müssen. In Afrika passiert das nicht?

Acemoğlu: Für Wohlstand und Freiheit braucht es einen starken Staat und eine starke Gesellschaft, die sich mobilisiert und den Staat kontrolliert. In Indien verhindert das Kastensystem, dass sich die Gesellschaft mobilisiert. In Afrika gibt es viele ethnisch gespaltene Gesellschaften, sie sind schwach. Manchmal endet das darin, dass ein Staat unkontrolliert und despotisch ist. Ist aber auch der Staat schwach, etwa nur auf dem Papier vorhanden, dann im Chaos.

STANDARD: Ihrer Theorie zufolge kann China nie so reich wie die USA oder Westeuropa werden, weil nur die Elite politische Macht hat. Haben Sie Ihre Meinung geändert?

Acemoğlu: Die erste Phase des Wachstums in China ist einfach zu erklären. Das Land ist mit denkbar schlechten Institutionen gestartet und hat sie verbessert. Das erklärt die ersten zwei Jahrzehnte. Phase zwei war Wachstum wie in der Sowjetunion, wo der Staat alles kontrollierte und investierte, es aber keine breitflächige Innovation gab. Mit despotischen Institutionen ist das nicht möglich. Das war unsere Sicht auf China.

STANDARD: Aber?

Acemoğlu: China ist bis vor zehn Jahren diesem Modell gefolgt. Jetzt ist es sich dieser Schwäche bewusst. Es hat ein Experiment gestartet, das es so noch nicht gab. Es ist der erste despotische Staat, der probiert, ein technologischer Anführer zu werden. Es gibt keine Freiheit, aber massive Investitionen in Technologien und Forschung. Ich glaube nicht, dass es funktioniert, es gibt große Spannungen im System. Aber das Land hat im Zeitalter der künstlichen Intelligenz einen Vorteil: Es kann viel mehr Daten sammeln als westliche Innovatoren, die vom Datenschutz eingeschränkt sind.

STANDARD: Sie schreiben im Buch auch von einem "Normenkäfig", der in Gesellschaften die wirtschaftliche Entwicklung blockiert.

Acemoğlu: Wenn es keine Justiz gibt, dann entwickeln sich Normen oft so, dass alles beim Alten bleibt. Jede Form von Veränderung heißt potenziell Konflikt. Die Normen sind also sehr starr, man darf vieles nicht tun. Auch ökonomisch! Zum Beispiel mit bestimmten Gütern nicht handeln, es darf keine Hierarchien geben, keine Ungleichheit. Wir nennen das den Normenkäfig. In ihm gibt es keine Freiheit und keinen Wohlstand.

STANDARD: Ein Beispiel.

Acemoğlu: Nehmen wir Stämme in Afrika her. Manche Normen haben bis heute überlebt. Schauen Sie nach Nigeria. Wenn man in die Millionenmetropole Lagos geht, sieht man das nicht. Wenn man aber in andere Teile des Landes sieht, findet man, dass Normen noch sehr wichtig sind. Die Natur des Staates ist, dass er die Gesellschaft ordnet und reguliert. Immer wenn Staaten entstehen, lockern sich die Normen. Das ist gut für die Freiheit der Menschen.

STANDARD: Was ist die Aufgabe des Westens im Kampf gegen Armut?

Acemoğlu: Das Wichtigste, was er tun kann, ist, auf sich selbst zu schauen. Er ist kein Vorbild mehr. Vor 20 Jahren hat man noch zu einem afrikanischen Politiker sagen können: Schauen Sie in die USA, nach England oder Deutschland. Das ist heute nicht mehr so. Wir müssen Möglichkeiten für die Verlierer von Globalisierung und Automatisierung schaffen. Das ist fast nirgendwo passiert. Es gibt außerdem soziale Spannungen angesichts der Migration. Zu einem gewissen Grad ist das eine soziale Bewegung von unten. Die Menschen sind unzufrieden und machen sich hörbar. Der Westen muss darauf achten, dass er nicht aus dem Korridor fällt. (Andreas Sator, 20.11.2019)

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