Wenn von Beteiligung und Partizipation die Rede ist, denken wir sofort und vor allem an Wahlen und öffentlichen Diskurs in vorwiegend komplexen, vorwiegend schriftlichen Formen, wie Zeitungsartikel, Kommentare und Beiträge in sozialen Medien, an die aktive Beteiligung in den demokratischen und politischen Entscheidungsprozessen eben. Wir denken uns Beteiligung als freie (Wahl-)Möglichkeit, sich als Bürgerin, als Bürger zu verhalten. Wir denken dabei, in Vereinen ehrenamtlich tätig zu werden oder sogar demonstrierend auf die Straßen zu gehen. Vielleicht aber denken wir auch an Gruppen, die die "Falschen" wählen oder gar nicht wählen, an die am stärksten Betroffenen der politischen Entscheidungen, die sich nicht für Politik interessieren und sich nicht beteiligen. Wir sind die so genannte Mitte der Gesellschaft, die von politischen Entscheidungen nicht unmittelbar oder wenig betroffen ist, zumindest nicht in existenziellem Ausmaß, wir haben finanziellen Spielraum, soziale Netzwerke und Zugang zu sozialen Investitionen wie Bildung und Kultur. Politik ist mitunter spannende Unterhaltung in für uns zugänglichen Medien.

Erfahrungen von Ausgrenzung und Ohnmacht

Bildungsbenachteiligte und Menschen mit Basisbildungsbedarf gehören in großem Ausmaß zu der Gruppe Betroffener, die sich erfahrungsgemäß nicht beteiligt. Warum stehen gerade die, die am stärksten betroffen sind, nicht auf und treten für ihre Interessen ein? 

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Bildungsbenachteiligte und Menschen mit Basisbildungsbedarf das Gefühl haben, weder gefragt zu werden noch mitbestimmen zu können. Oft können sie die Auswirkungen politischer Entscheidungen auch nicht mit ihrer eigenen Situation in Verbindung bringen. Sie haben gelernt, entweder gar nicht oder als Zerrbild aus Zuschreibungen vorzukommen, als Angehörige einer Gruppe, über die geurteilt wurde und entschieden wird. Ich habe immer auch erlebt, dass die meisten sehr wohl wissen, wie sie von der Mitte der Gesellschaft wahrgenommen und beurteilt werden.

Gesellschaftliche und soziale Teilhabe

Soziales Vertrauen und soziales Kapital, kulturelles Kapital (darin unter anderem Bildung) ermöglichen den Zugang zu sozialen Angeboten, zu Waren und den Zugang beziehungsweise die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet aber auch, ohne Angst Termine mit einer öffentlichen Einrichtung zu vereinbaren, ohne Angst einen Besuch beim Arzt zu absolvieren, oder sich bei einer Behörde angemessen zu beschweren. Gesellschaftliche Teilhabe heißt auch, die Nachbarin anzusprechen und zum Plaudern einzuladen, einen Gymnastikkurs zu besuchen, oder an einem Elternabend teilzunehmen.

Bildungsbenachteiligte sehen sich in der Gesellschaft häufig nicht vertreten.
Foto: Martin Leitner

Perspektivenwechsel

Stellen Sie sich vor, Sie haben viele Jahre in ein und derselben Firma gearbeitet, mit Kollegen und Kolleginnen, die Sie kannten und einem Chef, der Ihnen gewogen war. Es war ein sicherer Platz mit einer sicheren routinierten Arbeit. Dann stellen Sie sich vor, Sie haben diese Arbeit wegen einer technischen Umstellung, weil Sie einen langen Krankenstand hatten, oder die Firma umstrukturiert wurde, verloren. So stehen Sie vor Ihnen bisher unbekannten Herausforderungen, finden sich in einem Ihnen unbekannten System wieder. Es gibt viele Gründe, und oft sind es berufliche Krisen, unerwartete Arbeitslosigkeit zum Beispiel, die es an den Tag bringen: Sie haben Schwierigkeiten zu verstehen, was Sie lesen, noch mehr Schwierigkeiten mit dem Schreiben, einen Computer haben Sie nie benützt.

Was von Ihnen verlangt wird

Jetzt, stellen Sie sich vor, stehen Sie da, sollen einen E-Mail-Account haben, mit dem AMS vorwiegend elektronisch über eAMS kommunizieren, komplizierte Formulare ausfüllen, auf Papier oder online, Stellenausschreibungen finden und lesen, speichern und ausdrucken, Firmen recherchieren und deren Internetauftritt analysieren, einen Lebenslauf erstellen und Bewerbungen verfassen. Sie sollen zu Vorstellungsgesprächen gehen und sich dort als "die beste Arbeitskraft" für eine neue Stelle präsentieren.

Immer öfter kommen Sie an Ihre Grenzen, kennen sich überhaupt nicht mehr aus und müssen eine Person, vielleicht aus Ihrer Familie, die Ihnen schon früher beim Schriftlichen oder beim Bestellen im Internet geholfen hat, um Hilfe bitten. Vielleicht bringt diese Person Sie zu einer Informationsveranstaltung für einen Basisbildungskurs.

Zumutung Klassenzimmer

Sie kommen in eine Art von Klassenzimmer mit Tafel, Tischen und Stühlen. Neben Ihnen sitzen eine jüngere Frau, die drei Kinder hat und den beiden älteren beim Lernen helfen will, ein Arbeiter, der die neuen computergesteuerten Maschinen in seiner Firma bedienen muss, eine Pensionistin, die ihre Bankgeschäfte und Urlaubsbuchungen selbständig bewältigen will, ein junger Geflüchteter, der nie die Schule besuchte, aber bereits über acht Jahre Berufserfahrungen verfügt.

Denken nun auch wir an unsere eigenen Lernerfahrungen, an unser Englisch, das wir ja mindestens vier Jahre gelernt haben oder an unsere Fortschritte im Italienischkurs an der Volkshochschule? Erinnern wir uns an unsere letzte Prüfung und wie lange die zurückliegt? Wie wäre das für uns, wieder in der Schule zu sein?

In diesem oder einem ähnlichen Gefüge, in diesem Moment großer Verletzlichkeit, besetzt mit Scham vielleicht, in so einem Moment, in so einem Raum beginnt Basisbildung.

Informationsveranstaltung für einen Basisbildungskurs.
Foto: Martin Leitner

Machtasymmetrie und pädagogische Verhältnisse

Basisbildung zielt auf die Handlungsfähigkeit der Teilnehmenden in der Gesellschaft und der Arbeitswelt ab, was Beteiligung und Partizipation ermöglichen und bewirken kann. Deshalb müssen Beteiligung und Partizipation nicht nur Inhalt oder Thema in der Basisbildung sein, sondern sich auch in der Didaktik und den Methoden widerspiegeln. Die Teilnehmenden und ihre Bedürfnisse stehen im Zentrum. Es ist wichtig, dass die Kursleiterin sich ihrer mächtigen Rolle im Kursgefüge bewusst ist, es ist wichtig, dass der Kursleiter Kommunikation auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten ermöglicht. Nicht zuletzt bestimmen die Teilnehmenden ihre Lernziele. All das erfordert Haltung und Zeit. Das Lesen und Verstehen, das Schreiben, das Rechnen, das Bedienen und Verstehen der Informations- und Kommunikationstechnologien, sind die Lerninhalte von Basisbildungskursen. Durch Mitgestaltung des Lernprozesses und Mitreden im Gruppenprozess, das Sichtbarwerden der eigenen, bereits erworbenen Kompetenzen, kann Basisbildung zu einer positiven Lernerfahrung werden und damit gelingen.

Handlungsfähigkeit und entsprechende Kompetenzen zu entwickeln, gelten als Voraussetzung, den Anschluss in den Arbeitsmarkt und in das Bildungssystem zu finden und sich an Gesellschaft und Politik beteiligen zu können. (Martin Leitner, 21.11.2019)

Martin Leitner von ISOP – Innovative Sozialprojekte Graz ist Basisbildner
und in der Weiterbildung für Basisbildner und Basisbildnerinnen tätig.

Campus Basisbildung (CaBa) ist ein bundesweiter Zusammenschluss mit dem Ziel Bewusstsein und Sensibilisierung für die Themen Basisbildung und Bildungsbenachteiligung zu schaffen. Das Projekt besteht aus: VHS Floridsdorf (Wien), B!LL (Linz), ISOP & Uni-T (Graz) sowie Agenda (Salzburg).

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