Mircea Cărtărescu ist der – neben dem Ungarn Péter Nádas – wichtigste Prosakünstler Osteuropas. Er entwirft ein Bild von Ceaușescus Bruchbudensozialismus als Zauberland.

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Es gibt im Feld der Literatur Gelüste, die man, ob gewollt oder nicht, den perversen an die Seite stellen muss. Jedes Menschenkind, das seine Sinne beisammen hat, wird den christlich überlieferten Höllenkreisen nicht vor Ablauf seiner Erdentage einen Besuch abstatten. Wer eine solche Reise in die Gefilde des Unaussprechlichen in Betracht zieht, sollte sich nach einem geeigneten Fremdenführer umsehen. Der 900-seitige Roman "Solenoid" des seit geraumer Zeit Weltliteratur schreibenden Rumänen Mircea Cărtărescu ist ein solches von unzähligen Teufelszeichen entstelltes Höllenbuch.

In ihm wird der Leser gehalten, das Jenseits im Diesseits zu entdecken; es unter der Ölfarbe langer Schulkorridore hervorzukratzen. Er muss wie gebannt auf Gebäude starren. Er bestaunt dann Ruinen des real existiert habenden Sozialismus, die sich unter der stark säurehaltigen Tinte des Autors zu öffnen scheinen wie die verwesten Kadaver urzeitlicher Tiere.

Er, der Höllenbesucher, wird von Cărtărescu, seinem universell gelehrten Fremdenführer, durch das Bukarest der 1980er-Jahre geführt. Er entdeckt buchstäblich eine Welt hinter den Spiegeln. Die säurezerfressenen Böden der Misswirtschaft geben unter den Tritten nach. Sechs sogenannte "Solenoide" findet man in der Bukarester Erde, ihr größter liegt ausgerechnet unter dem Leichenschauhaus wie ein monumentaler Hundeknochen vergraben.

Klima der Angst

Solenoide sind Zylinderspulen, die konstante Magnetfelder erzeugen. "Meine Welt ist Bukarest", schreibt Cărtărescu ungefähr auf Seite 600, "die traurigste Stadt auf dem Erdboden, aber gleichermaßen die einzig wahre Stadt." Nur hier liegen Wohnhäuser wie Frachtschiffe vor Anker. Nur in dieser Stadt erheben sich Schläfer in die Lüfte, sobald sie den unsichtbaren Magneten in Betrieb genommen haben. Nur hier ist der namenlose Held ein Pflichtschullehrer, an dem ein Dichter verlorengegangen ist. Den der Leser dennoch an ihm hat, da er ja den Roman "Solenoid" in Händen hält.

Warum nun freiwillig diese Reise in die ewige Nacht antreten? Man muss die Bereitschaft mitbringen, jede noch so geringe Hoffnung auf vorzeitiges Erwachen, auf Erlösung von einem Klima der Angst fahren zu lassen. Die Gangfluchten und Stiegenhäuser dieses sozialistischen Traumlandes reichen hinauf in unermessliche Höhen und hinab in grauenerweckende Tiefen. Es ist, als ob nur im totalen Mangel des Bruchbudenkommunismus genug Platz wäre für die konkurrierende Fülle an schöpferischen Details.

Jeder Mensch besitzt während des Bruchteils einer Sekunde die Chance, das Ruder herumzuwerfen. Dementsprechend tummeln sich im Hyperraum der Poesie zehntausend oder mehr Cărtă rescus. Der Autor gleichen Namens aber macht sich daran, jede einzelne denkbare Variante in seinem Sudelbuch zu verzeichnen.

Führer durch die Hölle

Mircea Cărtărescu (63) gilt spätestens seit seiner "Orbitor"-Trilogie (2007 bis 2014) als literaturnobelpreiswürdig. In der Tat ist dieser Dichter ein Vertreter des Wahnwitzes. Er nimmt tendenziell das Wagnis auf sich, die Wirklichkeit hinsichtlich ihres Gestaltenreichtums zu übertreffen. Tatsächlich haben wir ein in den Schatten der Karpaten verpflanztes Kind von Jorge Luis Borges vor uns. Die Welt besitzt keine natürliche Außenhaut, sondern wuchert unabsehbar vor sich hin. Aber der Erzähler ist ein vertrauenerweckender Höllenführer. Er versorgt uns mit Hinweisen. Vielleicht sind wir Menschen auch bloß Krätzmilben, die in der "Haut eines unausdenkbaren Gottes" stecken. Doch immerhin hat uns dieser Gott, mag er sich auch unwirsch kratzen, die Gabe der Lektüre vermacht. (Ronald Pohl, 16.11.2019)