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Von der Leyen brennt darauf, endlich mit ihrem Team loszulegen. Aber sie kann nicht. Sie ist zur öffentlichen Zurückhaltung verdammt.

Foto: AP / Fransisco Seco

Vergangenen Mittwoch war im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Brüssel großes Feiern angesagt. Auf der Rednerliste stand natürlich der Chef des Hauses, der Italiener David Sassoli. Alle Fraktionschefs ergriffen das Wort.

Aus Deutschland war ein besonderer Gast angereist, der dem Anlass des Treffens, dem Fall der Berliner Mauer im November 1989, mit einer großen historischen "Friedens rede" die Krone aufsetzen sollte: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.

Ganz vorn links, in Reihe eins, saß jemand anderer aus Deutschland, eine Person, die nun, 30 Jahre nach dem Mauerfall, das krisengeschüttelte europäische Einigungswerk vorantreiben soll: Ursula von der Leyen, die gewählte nächste Präsidentin der EU-Kommission.

Ohne offizielle Funktion

Von der Leyen hätte sicher auch gerne zur Bedeutung des Falls der Mauer und Grundsätzliches zur Zukunft der EU gesagt. Aber sie durfte nicht. Die deutsche Ex -Verteidigungsministerin ist "nur" President-elect, also vom Europäischen Parlament bestätigt, aber noch ohne offizielle Funktion.

So gesehen war ihr Auftritt im Kreis der EU-Granden am Mittwoch ein perfekter Ausdruck dafür, wie es derzeit politisch steht. Von der Leyen brennt darauf, endlich mit ihrem Team von 26 oder 27 Kommissarinnen und Kommissaren loszulegen (je nachdem, ob man die Briten noch mitnimmt und mitzählt oder nicht). Aber sie kann nicht. Sie ist zur öffentlichen Zurückhaltung verdammt.

Glaubt man ihren Vertrauten, ist dieses momentane Verharrenmüssen für sie der schlimmst mögliche Zustand. Die Tochter des legendären früheren niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht gilt als extrem ehrgeizig, bestens organisiert, vorbereitet – und als besonders fleißig.

Aber von der Leyen hat auch den Ruf, gerne im Alleingang zu agieren, nicht gestützt auf ein breites Netzwerk in der eigenen europäischen Parteifamilie, so wie ihr Vorgänger, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, zum Beispiel.

Eigensinnig und einzelgängerisch

Im Sommer etwa sorgte sie für Erstaunen, bei manchen sogar für Entsetzen: Sie kündigte an, dass sie in Brüssel keine Wohnung beziehen werde, sondern in einem Zimmer neben ihrem Büro wohnen werde, kaum 30 Quadratmeter groß.

Um das zu ermöglichen, musste in dem schlichten Bürogebäude für viel Geld umgebaut werden. Noch teurer wird es werden, wenn von der Leyen dann tatsächlich dort im obersten Stock nächtigt, sobald ihre Kommission regulär arbeitet. Das riesige Berlaymont steht dann leer. Da aber jemand die Präsidentin im Notfall retten müsste, muss eine eigene Security präsent sein.

Manch ein Beamter schüttelt den Kopf über so viel Eigensinn. Aber so sei die Deutsche nun einmal, tuschelt man in den Couloirs – eine Einzelgängerin. Diesen Ruf brachte sie aus Berlin mit.

Schon im Juli war Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin nominiert worden und ab diesem Zeitpunkt praktisch von der Berliner Bühne verschwunden: Sie musste ab Mitte Juli gemeinsam mit den Regierungen der 28 Mitgliedsstaaten ihr Team aus 28 Kommissaren zusammen stellen. Eine mühsame Angelegenheit. Drei Kommissarskandidaten wurden abgelehnt, der Brexit ebenso verschoben wie der geplante Start der Kommission am 1. November.

Verzögerung des Amtsantrittes

Momentan plagt sie sich wie Sisyphos: Sie führt diskrete Gespräche mit Premierministern, Beratern, EU-Abgeordneten. Hunderte, ja tausende Telefonate und Treffen absolvierte sie seit dem Sommer, um den Start der Kommission endlich durchzudrücken. Bisher vergeblich.

Weil der britische Premier Boris Johnson sich weigert, vertragsgemäß einen britischen Kandidaten zu nominieren und die Kommission deswegen ein Verfahren gegen Großbritannien eingeleitet hat, könnte sich ihr Amtsantritt auf Anfang 2020 verzögern.

Daheim in Deutschland blieb vor allem die schlechte Nachrede. Die SPD tobte, weil mit der Nominierung der deutschen Verteidigungsministerin, die im EU-Wahlkampf nicht einmal kandidiert hatte, das Prinzip, den Kommissionsposten mit einem der Spitzenkandidaten zu besetzten, über den Haufen geworfen worden war.

Ebenso sauer war man in der CSU, weil Manfred Weber nicht zum Zug kam. "Das Verfahren der Nominierung hat der parlamentarischen Demokratie schweren Schaden zugefügt", bekam von der Leyen dieser Tage bei einem ihrer seltenen Deutschland-Besuche, beim CSU-Wirtschaftsrat in München von der EU-Abgeordneten Angelika Niebler zu hören. Vergessen hat man dort nichts.

Respektiert, aber nicht beliebt

Man hat auch nicht den Eindruck, dass von der Leyen in der CDU fehlt. Dort beobachtet man allenfalls sehr interessiert ihre Startschwierigkeiten in Brüssel. Einerseits soll es die erste weibliche Kommissionspräsidentin natürlich nicht vermasseln. Andererseits verspürt so mancher ein bisschen Genugtuung.

Das kommt daher, dass die 61-Jährige in der CDU nicht beliebt oder populär ist. Man hat Respekt vor ihrer Leistung und ihrer Karriere, wie sie diese mit sieben Kindern unter einen Hut gebracht hat. Aber vielen ist von der Leyen eben als Einzelkämpferin in Erinnerung, die sich immer gerne in Szene setzte.

Brüssel kennt sie seit ihrer Jugend, dort besuchte sie auch die Schule – dieselbe übrigens wie der britische Premier Johnson. Von der Leyens Vater Ernst Albrecht (CDU) arbeitete für die EU-Kommission, ehe er in Niedersachsen politische Karriere machte.

Auch von der Leyen trat in die CDU ein, allerdings erst nach ihrem Medizinstudium. Sie war damals schon 32 Jahre alt. Irgendwie wurde sie mit der CDU nie ganz warm. Das Gleiche galt umgekehrt. Später, als "Röschen" aufstieg und CDU-Vizechefin wurde, erzielte sie bei den Vorstandswahlen auf Parteitagen immer die schwächsten Ergebnisse in der Stellvertreterriege.

Merkel als Fürsprecherin

Aber von der Leyen, diese zielstrebige Protestantin, brauchte vielleicht auch kein Netzwerk. In Kanzlerin Angela Merkel hatte sie eine mächtige Fürsprecherin. Merkel war es, die von der Leyen im Jahr 2005 aus der niedersächsischen Landespolitik nach Berlin holte.

Familienministerin, Arbeitsministerin, erste Frau an der Spitze des Verteidigungsressorts: Von der Leyen war bis 2018 für Merkel tätig und sorgte – zum Leidwesen einiger Männer in der Union – für mehr Kindergärten, Elterngeld und "Vätermonate".

Lange galt sie als Merkels logische Nachfolgerin. Darauf angesprochen, hatte sich von der Leyen zwar einen schönen Satz zurechtgelegt, der da lautete: "Jede Generation in Deutschland hat einen Kanzler. Aus meiner Generation ist das Angela Merkel."

Aber jeder wusste, dass sie sich selbst für Kanzlerin-tauglich hielt. Sie wäre 2010 auch gern Bundespräsidentin geworden, aber da hat Merkel dann ihre Pläne noch einmal geändert. Zum Schluss ihrer Karriere in Deutschland, als von der Leyen als Verteidigungsministerin an vielen Fronten kämpfte, während Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Chefin aufstieg, schien das Verhältnis zu Merkel etwas abgekühlt.

Doch schließlich fand sich mit dem Wechsel nach Brüssel und dem gleichzeitigen Karrieresprung nach oben doch eine Lösung, mit der alle leben können. Zumindest bis jetzt. (Birgit Baumann, Thomas Mayer, 16.11.2019)