Büste am Grab von Slobodan Milošević.

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STANDARD: Aus welchen ideologischen Kreisen kommen die Revisionisten, und warum und ab wann konzentrierten sie sich auf Jugoslawien?

Hoare: Die Gruppe, die ich als "linke Revisionisten" bezeichnet habe, ist aus verschiedenen Strömungen der radikalen Linken hervorgegangen – Vertreter der Neuen Linken, Trotzkisten, Stalinisten und andere Anhänger der pro-sowjetischen kommunistischen Linie sowie eine Handvoll Sozialdemokraten. Sie waren also eine vergleichsweise heterogene Gruppe. Was sie verband, war der Glaube an den "Antiimperialismus" – insbesondere Feindseligkeit gegenüber den USA und dem Westen im Allgemeinen – und in den meisten Fällen der Glaube, dass die "sozialistischen" Diktaturen Osteuropas vor 1989 dem kapitalistischen Westen moralisch überlegen waren. Einige von ihnen hatten das titoistische Regime in Jugoslawien vor den 1990er-Jahren bewundert, während andere sich erst nach Ausbruch des Krieges 1991 für das Land interessierten. Sie alle zeigten jedoch eine instinktive Reaktion gegen das, was sie als angebliche Ermutigung des Westens zur Auflösung Jugoslawiens empfanden, und gegen die "Schikanierung" des angeblich "sozialistischen" Serbiens. Dies spiegelte ein Gefühl der Verzweiflung nach dem Zusammenbruch des staatlichen "Sozialismus" in Osteuropa und der Sowjetunion in den Jahren 1989 bis 1991 wider. Möglicherweise folgte es auch der Opposition gegen den Krieg von 1991 zur Befreiung Kuwaits und der Überzeugung, dass der Westen nach Saddams Irak nun Miloševićs Serbien als Ziel eines "imperialistischen" Angriffs anvisierte.

STANDARD: Welche Freund-Feind-Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg projizieren diese Revisionisten auf die Kriege in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo?

Hoare: Die serbischen Nationalisten versuchten in den 1980er- und 1990er-Jahren, das titoistische multinationale föderale Jugoslawien anzugreifen, indem sie das gemeinsame Partisanen-Erbe der jugoslawischen Völker angriffen, das dazu beitrug, den Staat zusammenzuhalten. Obwohl die Partisanen eine multinationale Befreiungsbewegung und insgesamt nur zu etwa 50 Prozent serbisch waren, versuchten die serbischen Nationalisten, sie als ausschließlich serbische Bewegung zu betrachten, während sie die Tatsache der serbisch-nationalistischen Zusammenarbeit mit den Nazis verschwiegen und Kroaten, Muslime (Bosniaken) und insbesondere Albaner dämonisierten, indem sie so taten, als wären diese alle im Zweiten Weltkrieg für den Faschismus gewesen. Dies diente dem Zweck, Nicht-Serben zu entmenschlichen und den Boden für Völkermordangriffe gegen sie vorzubereiten. Indem die linken Revisionisten die serbisch-nationalistische Seite im Krieg unterstützten, schluckten sie diese gefälschte Geschichte, ohne sie zu hinterfragen. Sie interessierten sich nicht für Details, die dieses ungenaue und vereinfachte Bild unterminierten: zum Beispiel dass der jugoslawische Partisanenführer Tito ein Kroate gewesen war, dass der kroatische Präsident in den 1990er-Jahren, Franjo Tuđman, ein Partisan gewesen war oder dass prominente serbische Nationalisten wie Vojislav Šešelj und Vuk Drašković die mit den Nazis kollaborierende Tschetnik-Bewegung verehrten.

STANDARD: Wer sind prominente Vertreter dieser Gruppe, und welche Ziele verfolgen sie?

Hoare: Zu den prominenten gegenwärtigen und ehemaligen Vertretern der linken Revisionisten zählen Noam Chomsky, John Pilger, Tariq Ali, Jeremy Corbyn, Harold Pinter, Ed Hermann, Diana Johnstone, David Gibbs und Michael Parenti sowie die sozialistische Arbeiterpartei in Großbritannien und das Magazin "Living Marxism" (das nun als das Onlinemagazin "Spiked" wiederhergestellt wurde), in dem Thomas Deichmann und Peter Handke publiziert wurden. Einige von ihnen hatten die Agenda, das Milošević-Regime in der Überzeugung zu verteidigen, es sei in gewisser Weise "sozialistisch" und widersetze sich dem "westlichen Imperialismus". Was sie jedoch alle verband, war die Opposition gegen die Doktrin des liberalen Interventionismus, d. h. der Widerstand gegen die Idee, dass die USA und ihre westlichen Verbündeten im Ausland mit militärischen oder ähnlichen Mitteln intervenieren sollten, um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schwere Menschenrechtsverletzungen zu stoppen. Sie waren aber keine konsequenten Antiimperialisten, da sie nichts gegen die Zusammenarbeit des Westens mit Miloševićs Serbien einzuwenden hatten. Dies hat dazu geführt, dass sich viele von ihnen auf unterschiedliche Weise mit Mitgliedern der konservativ-realistischen oder populistischen Rechten verbünden: Gibbs hat etwa Donald Trump aus außenpolitischen Gründen gegenüber Hillary Clinton den Vorzug gegeben; Johnstone hat positiv über Marine Le Pen gesprochen; Tariq Ali und "Spiked" haben den Brexit unterstützt.

STANDARD: Welche Vergleiche mit anderen historischen Auseinandersetzungen werden von diesen Revisionisten herangezogen, und wie wird das mit den Kriegen in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo in Verbindung gebracht?

Hoare: "Living Marxism" setzte den angeblichen Angriff des "Imperialismus" gegen Serben mit der historischen Unterdrückung der Iren durch Großbritannien gleich und prägte den Begriff "weiße Nigger", um zu beschreiben, wie Serben angeblich angesehen wurden. Parenti behauptete, das Nato-Bombardement auf Serbien im Jahr 1999 sei auf den Wunsch zurückzuführen, seine sozialisierte Industrie zu zerstören, und verglich die US-Unterstützung für die Kosovo-Befreiungsarmee mit einer verdeckten Operation der CIA in Mittelamerika aus der Zeit des Kalten Krieges. Chomsky verglich die westliche Unterstützung für die bosnische Sache mit der westlichen Unterstützung für Israel und den Zionismus und behauptete, die USA hätten Serbien bombardiert, weil es sich gegen "neoliberale" Reformen wehrte. Pilger behauptet, Jugoslawien sei ins Visier genommen worden, weil es zu "unabhängig" von der EU sei und weil Deutschland angeblich besondere "Marktinteressen" in Slowenien und Kroatien habe. Der rote Faden war, dass Serbien angeblich deshalb schikaniert wurde, weil es zu unabhängig und/oder sozialistisch war, und dass die Intervention gegen Serbien durch traditionelle "imperialistische" Motive motiviert war.

STANDARD: Warum verteidigen diese Linken aber die ethnonationalistischen kriminellen Regimes von Slobodan Milošević oder Radovan Karadžić, obwohl die nicht sozialistisch waren?

Hoare: Nach dem Fall des kommunistischen Blocks, der Berliner Mauer und der Sowjetunion in den Jahren 1989–1991 blieb der antiwestlichen radikalen Linken nur sehr wenig Zeit, um einen plausiblen "Sozialismus" zu verteidigen, also mussten sie sich mit Bruchstücken begnügen. Karadžićs Regime war unverholen rechtsgerichtet und antikommunistisch, während Milošević marktwirtschaftliche Reformen einführte und Serbiens Telekommunikationssystem privatisierte. Doch Bettler dürfen nicht wählerisch sein, also haben die wütenden und verzweifelten Linksrevisionisten die beiden Politiker als antiimperialistische Märtyrer neu verpackt. Diese Art von linksradikaler Politik entwickelte sich von der Unterstützung "sozialistischer" Alternativen zum Westen zur Unterstützung jeglichen antiwestlichen Regimes, das sich angeblich dem "Imperialismus" widersetzt. Einige von ihnen unterstützen deshalb auch Assad in Syrien oder Putin in Russland.

STANDARD: Aus welchem Grund werden die Ursachen für den Krieg, etwa der Angriff der Armee der Republika Srpska auf Bosnien und Herzegowina, von den Revisionisten neu interpretiert oder geleugnet?

Hoare: Sie bestreiten, dass es a priori einen serbischen Antrieb zum Krieg oder zum Zerfall Jugoslawiens gegeben habe, und stellen die Aktionen Serbiens lediglich als Reaktion auf Handlungen des Westens oder nicht-serbischer Separatisten dar. Demnach war Serbiens Angriff auf Kroatien die Schuld Deutschlands, weil es den kroatischen Separatismus förderte und Kroatien anerkannte (obwohl der Angriff auf Kroatien Monate vor der deutschen Anerkennung stattfand). Der Angriff auf Bosnien-Herzegowina war die Schuld des Westens, weil es Bosnien-Herzegowina als Staat anerkannt hatte. Der Krieg im Kosovo war die Schuld der Kosovo-Befreiungsarmee UCK und des Rambouillet-Abkommens, weil es angeblich zu Unrecht die Souveränität Serbiens verletzt hatte, und so weiter. Die Revisionisten sehen die westlichen "Imperialisten" als Strippenzieher und die Führungen Serbiens und der anderen jugoslawischen Länder als unfähig zu handeln, abgesehen von einer Reaktion darauf, was der Westen tat. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass sie grundsätzlich kein Interesse an den Serben oder anderen ehemaligen Jugoslawen haben, nur wenn es darum geht, Punkte gegen den westlichen imperialistischen Feind zu machen.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Propaganda des Regimes von Wladimir Putin bei der revisionistischen Propaganda?

Hoare: Das Putin-Regime verfolgt die Politik, rechtsradikale und linksradikale Organisationen und Publikationen weltweit zu finanzieren und zu fördern, um die westlich-liberale Welt anzugreifen, und unterstützt deshalb naturgemäß Leute, die linksrevisionistische Propaganda zum ehemaligen Jugoslawien fördern. Es ist wahrscheinlich, dass die Förderung einer solchen Propaganda ein bewusstes Ziel des Putin-Regimes ist, das versucht Serbien und die Republika Srpska zu vereinnahmen und sie zur Destabilisierung des Balkans und zum Scheitern der EU- und der Nato-Erweiterung einzusetzen. Daher hat Russland auch eine UN-Resolution blockiert, in der der Völkermord an Srebrenica anerkannt wird.

STANDARD: Manche Revisionisten präsentieren die Massengewalt in Srebrenica als "Rachemassaker" und als lokalen Konflikt. Wie sehen die Fakten aus?

Hoare: Der serbisch-extremistische Angriff auf Srebrenica begann im Frühjahr 1992 im Rahmen einer systematischen serbischen Militäroffensive gegen den bosnischen Staat im gesamten Land. Srebrenica war insofern ungewöhnlich, weil es der Stadt anfänglich gelang, sich zu verteidigen, im Gegensatz zu den meisten anderen ostbosnischen Städten wie Zvornik, Foča und Višegrad. Infolgedessen wurde es zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge aus anderen Teilen der Region, aber von serbischen Truppen belagert. Die Verteidiger der Stadt versuchten, sich militärisch zu wehren. Mit anderen Worten, die Kämpfe in und um Srebrenica begannen von serbisch-extremistischer Seite, als nichts vorgefallen war, wofür sie Rache hätten suchen können. Der Konflikt war zudem nicht lokal, sondern landesweit.

STANDARD: Ist es notwendig in Europa auf die Gefahren der völkischen Ideologie und der daraus resultierenden Verbrechen aufmerksam zu machen?

Hoare: Es ist wichtig, auf solche Verbrechen aufmerksam zu machen, um zu verhindern, dass sie sich an anderer Stelle wiederholen. Tatsächlich gibt es jedoch seit den Neunzigerjahren regelmäßig ähnliche Verbrechen – wie in Darfur und Syrien –, und die Welt hat erneut versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu verhindern. Das Ideal bleibt jedoch, dass die Welt ermutigt wird zu handeln, um solche Verbrechen zu stoppen, indem wir auf sie aufmerksam machen. Die Tatsache, dass Fremdenfeindlichkeit und insbesondere Islamfeindlichkeit in Europa zunehmen und von Rechtspopulisten (und manchmal auch von Linkspopulisten) genutzt werden, um ihre eigene Attraktivität zu steigern, ist für die gegenwärtige europäische Zeitspanne vielleicht noch besorgniserregender. Es ist wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wohin solche bösen Ideologien führen: zur Zerstörung und zum Untergang. Serbien war einst eines der wohlhabendsten und liberalsten Länder im kommunistischen Osteuropa mit einem ausgezeichneten internationalen Ruf. Der Ruin, den es nach seiner Hinwendung zum extremen Nationalismus und zur Muslimfeindlichkeit erlebt hat, könnte auch das Schicksal anderer europäischer Länder sein. (Adelheid Wölfl, 16.11.2019)